9 Emilie Haas
Papierkrieg um ein Dauerasyl. Emilie Haas und die Schweizer Behörden
Höchst – St. Gallen, 28. März 1943
„Haas Emilie, Hausfrau, geb. 2.9.1878, in Deutschland, staatenlos, Wwe., (Tochter) des Levi und der Sarah geb. Lehmann, Wohnort unbestimmt. Barschaft: 127 Mark.
Grund der Einbringung: Emigrantin, unerlaubter Grenzübertritt.“[1]
In der Nacht vom 28. auf den 29. März werden zwei Frauen, Emilie Haas und Elisabeth Frank in die Zellen 5 und 16 der St. Galler Stadtpolizei gesperrt. Der Polizeibeamte Fässler schreibt seinen Rapport.
„Am 29. März 1943, 01.00 Uhr, brachte ein Baumgartner Emil, wohnhaft Zürcherstrasse 438, die beiden vorgenannten Emigranten auf die Hauptwache. Er erklärte, sie seien auf dem Hauptbahnhof gestanden und nicht mehr weitergekommen. Er habe sie auf ihr Verlangen in ein Hotel bringen wollen, da aber beide nass und schmutzig waren, wurden sie nach ihrer Herkunft gefragt. Als es sich herausstellte, dass es sich um Emigranten handelte, welche schwarz über die Grenze gekommen waren, wurden sie von Baumgartner der Hauptwache zugeführt.
Auf Befragen erklärten die beiden Emigranten, sie hätten sich schön längere Zeit in Vorarlberg aufgehalten. Da sie befürchteten, verschleppt zu werden, seien sie am 28. März 1943, um ca. 20 Uhr, über den Rhein gewatet und so schwarz in die Schweiz gekommen.“
Emilie Haas hat bei sich:
„Wertgegenstände: 1 Armbanduhr (defekt). Verschiedenes: 1 Portemonnaie, 1 Handtasche, Schreibpapier, 1 Schere, 1 Brille mit Etui, 2 Notizblöcke, 2 Bleistifte, 1 Füllfederhalter, 2 Paar Handschuhe, 1 Kamm, 1 Gummi, 1 Säcklein mit Nähfaden, 2 Stecknadeln, 2 Armbänder, 1 Kartenspiel. 1 Tasche mit Wäsche und Kleider, 2 Taschen mit Wäsche, Kleider und Toilettengegenstände.“[2]
Das ist alles, was sie besitzt, um in der Schweiz ein neues Leben zu beginnen.
Schon im Juni 1942 war Emilie Haas aus Krefeld geflohen, nachdem sie die Aufforderung erhalten hatte, sich am 14. Juni zur Deportation einzufinden. Der Transport zu dem sie befohlen wurde, fährt am 15. Juni mit 1003 Menschen aus dem Rheinland[3] nach Majdanek, wo einige Männer zur Arbeit selektiert werden, und von dort mit mehr als 900 Todgeweihten ins Vernichtungslager Sobibor.
Emilie Haas ist untergetaucht. Ein nicht-jüdischer Bekannter, der Zahnarzt Heinrich Kipphardt, der selbst als Sozialdemokrat zweimal im Konzentrationslager gesessen hatte, bringt sie unter falschem Namen bei einem Landwirt im Sauerland unter, als Erntehelferin. Im Oktober wechselt sie den Unterschlupf, gibt sich als Bombengeschädigte aus und verrichtet bei einer anderen Familie Hausarbeiten. Doch das Risiko wird immer größer.
Kipphardt stellt Kontakt zu ihrer Cousine Elisabeth Frank her, die schon seit Monaten als Helferin bei Bauern in Schruns in Vorarlberg untergetaucht ist. Auch sie unter falschem Namen. Mit einem gefälschten Postausweis reist Emilie Haas schließlich im März 1943 nach Bregenz. Sie trifft Frank und auch Kipphardt ist aus Krefeld angereist um den Frauen zu helfen. Eine Familie in Bregenz bringt die beiden unter. Dann eine Familie in Höchst. Und ein Schlepper bringt die beiden bis an die Grenze und hilft ihnen, durch das hüfthohe Wasser des alten Rheins und durch den Stacheldrahtverhau auf der Schweizer Seite zu kommen. Dann sind die beiden auf sich gestellt.
Auf der St. Galler Polizeistation werden sie mehrfach verhört. Die Beamten nehmen Widersprüche in ihren Aussagen wahr. Die Frauen wollen ihre Helfer in Vorarlberg nicht verraten. Stattdessen betteln sie um ihr Leben.
„Ich hoffe, dass man mir hier Asyl gewährt bis ich in ein anderes Land ausreisen kann. Eine Rückkehr nach Deutschland würde meinen Tod bedeuten.“
Die beiden Frauen dürfen bleiben. Von diesem Moment an geht es in den vielen Dokumenten, die das Schweizer Staatsarchiv zu ihrer Geschichte aufbewahrt hat, um ihren nicht enden wollenden Kampf um ein Dauerasyl und eine Existenz in der Schweiz.
Zunächst im Flüchtlingslager Oberhelfenschwil interniert, wird die 65-jährige noch im Frühjahr als „nicht arbeitslagertauglich“ eingestuft – und an ein Privatquartier in Sulgen im Thurgau überwiesen. Dort wird sie den Rest ihres Lebens verbringen.
Emilie Haas hat die Welt schon ein wenig kennengelernt. Mit ihrem Mann hatte sie viele Jahre in Schanghai gelebt, bis er 1931 starb. Kinder gab es nicht. Als mittellose Witwe kehrte sie nach Krefeld zurück, um von einer kleinen Rente und ein wenig Mieteinnahmen zu leben. Bis zu ihrer Flucht. Auch in der Schweiz bleibt sie eine Arme, um deren Versorgung sich nun die verschiedensten Behörden, die Flüchtlingshilfe und die Israelitische Armenhilfe miteinander streiten. Auch ihre Verwandten in den USA, in England, Italien und Uruguay werden von den Schweizer Behörden zur Kasse gebeten. Eine Reise nach Rom zu ihren Neffen, und ein Besuch durch ihre Schwester, werden ihr zum Vorwurf gemacht. Die Armenpflege im Thurgau wittert Sozialbetrug.
1950 wird Emilie Haas nach langem Papierkrieg ein Dauerasyl gewährt, auch wenn die Behörden im Thurgau noch 1952 mit dem Gedanken spielen, sie nach Deutschland abzuschieben. Von dort hat sie bis dahin eine Nothilfe erhalten. Eine Wiedergutmachung erhält sie nicht. Das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz kümmert sich schließlich um sie, begleicht Arzt- und Spitalskosten. Mittlerweile ist Emilie Haas kurz vor ihrem 80. Lebensjahr. Am 17. April 1957 stirbt sie bei einem Arztbesuch in St. Gallen.
Ihr Retter, Heinrich Kipphardt, überlebte das Ende des Krieges ebenfalls im Versteck als Deserteur im Siegerland. Gemeinsam mit seinem Sohn Heinar Kipphardt dem späteren zeitkritischen Dramatiker und Pionier des Dokumentartheaters.
[1] Verhörprotokoll Emilie Haas, St. Gallen, 29.3.1943, Dossier zu Emilie Haas; Schweizerisches Bundesarchiv, Bern
[2] Effektenverzeichnis Emilie Haas, St. Gallen, 29.3.1943, Dossier zu Emilie Haas; Schweizerisches Bundesarchiv, Bern
[3] https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_rhl_420615a.html, eingesehen am 13.1.2022.
9 Emilie Haas
Papierkrieg um ein Dauerasyl. Emilie Haas und die Schweizer Behörden
Höchst – St. Gallen, 28. März 1943
„Haas Emilie, Hausfrau, geb. 2.9.1878, in Deutschland, staatenlos, Wwe., (Tochter) des Levi und der Sarah geb. Lehmann, Wohnort unbestimmt. Barschaft: 127 Mark.
Grund der Einbringung: Emigrantin, unerlaubter Grenzübertritt.“[1]
In der Nacht vom 28. auf den 29. März werden zwei Frauen, Emilie Haas und Elisabeth Frank in die Zellen 5 und 16 der St. Galler Stadtpolizei gesperrt. Der Polizeibeamte Fässler schreibt seinen Rapport.
„Am 29. März 1943, 01.00 Uhr, brachte ein Baumgartner Emil, wohnhaft Zürcherstrasse 438, die beiden vorgenannten Emigranten auf die Hauptwache. Er erklärte, sie seien auf dem Hauptbahnhof gestanden und nicht mehr weitergekommen. Er habe sie auf ihr Verlangen in ein Hotel bringen wollen, da aber beide nass und schmutzig waren, wurden sie nach ihrer Herkunft gefragt. Als es sich herausstellte, dass es sich um Emigranten handelte, welche schwarz über die Grenze gekommen waren, wurden sie von Baumgartner der Hauptwache zugeführt.
Auf Befragen erklärten die beiden Emigranten, sie hätten sich schön längere Zeit in Vorarlberg aufgehalten. Da sie befürchteten, verschleppt zu werden, seien sie am 28. März 1943, um ca. 20 Uhr, über den Rhein gewatet und so schwarz in die Schweiz gekommen.“
Emilie Haas hat bei sich:
„Wertgegenstände: 1 Armbanduhr (defekt). Verschiedenes: 1 Portemonnaie, 1 Handtasche, Schreibpapier, 1 Schere, 1 Brille mit Etui, 2 Notizblöcke, 2 Bleistifte, 1 Füllfederhalter, 2 Paar Handschuhe, 1 Kamm, 1 Gummi, 1 Säcklein mit Nähfaden, 2 Stecknadeln, 2 Armbänder, 1 Kartenspiel. 1 Tasche mit Wäsche und Kleider, 2 Taschen mit Wäsche, Kleider und Toilettengegenstände.“[2]
Das ist alles, was sie besitzt, um in der Schweiz ein neues Leben zu beginnen.
Schon im Juni 1942 war Emilie Haas aus Krefeld geflohen, nachdem sie die Aufforderung erhalten hatte, sich am 14. Juni zur Deportation einzufinden. Der Transport zu dem sie befohlen wurde, fährt am 15. Juni mit 1003 Menschen aus dem Rheinland[3] nach Majdanek, wo einige Männer zur Arbeit selektiert werden, und von dort mit mehr als 900 Todgeweihten ins Vernichtungslager Sobibor.
Emilie Haas ist untergetaucht. Ein nicht-jüdischer Bekannter, der Zahnarzt Heinrich Kipphardt, der selbst als Sozialdemokrat zweimal im Konzentrationslager gesessen hatte, bringt sie unter falschem Namen bei einem Landwirt im Sauerland unter, als Erntehelferin. Im Oktober wechselt sie den Unterschlupf, gibt sich als Bombengeschädigte aus und verrichtet bei einer anderen Familie Hausarbeiten. Doch das Risiko wird immer größer.
Kipphardt stellt Kontakt zu ihrer Cousine Elisabeth Frank her, die schon seit Monaten als Helferin bei Bauern in Schruns in Vorarlberg untergetaucht ist. Auch sie unter falschem Namen. Mit einem gefälschten Postausweis reist Emilie Haas schließlich im März 1943 nach Bregenz. Sie trifft Frank und auch Kipphardt ist aus Krefeld angereist um den Frauen zu helfen. Eine Familie in Bregenz bringt die beiden unter. Dann eine Familie in Höchst. Und ein Schlepper bringt die beiden bis an die Grenze und hilft ihnen, durch das hüfthohe Wasser des alten Rheins und durch den Stacheldrahtverhau auf der Schweizer Seite zu kommen. Dann sind die beiden auf sich gestellt.
Auf der St. Galler Polizeistation werden sie mehrfach verhört. Die Beamten nehmen Widersprüche in ihren Aussagen wahr. Die Frauen wollen ihre Helfer in Vorarlberg nicht verraten. Stattdessen betteln sie um ihr Leben.
„Ich hoffe, dass man mir hier Asyl gewährt bis ich in ein anderes Land ausreisen kann. Eine Rückkehr nach Deutschland würde meinen Tod bedeuten.“
Die beiden Frauen dürfen bleiben. Von diesem Moment an geht es in den vielen Dokumenten, die das Schweizer Staatsarchiv zu ihrer Geschichte aufbewahrt hat, um ihren nicht enden wollenden Kampf um ein Dauerasyl und eine Existenz in der Schweiz.
Zunächst im Flüchtlingslager Oberhelfenschwil interniert, wird die 65-jährige noch im Frühjahr als „nicht arbeitslagertauglich“ eingestuft – und an ein Privatquartier in Sulgen im Thurgau überwiesen. Dort wird sie den Rest ihres Lebens verbringen.
Emilie Haas hat die Welt schon ein wenig kennengelernt. Mit ihrem Mann hatte sie viele Jahre in Schanghai gelebt, bis er 1931 starb. Kinder gab es nicht. Als mittellose Witwe kehrte sie nach Krefeld zurück, um von einer kleinen Rente und ein wenig Mieteinnahmen zu leben. Bis zu ihrer Flucht. Auch in der Schweiz bleibt sie eine Arme, um deren Versorgung sich nun die verschiedensten Behörden, die Flüchtlingshilfe und die Israelitische Armenhilfe miteinander streiten. Auch ihre Verwandten in den USA, in England, Italien und Uruguay werden von den Schweizer Behörden zur Kasse gebeten. Eine Reise nach Rom zu ihren Neffen, und ein Besuch durch ihre Schwester, werden ihr zum Vorwurf gemacht. Die Armenpflege im Thurgau wittert Sozialbetrug.
1950 wird Emilie Haas nach langem Papierkrieg ein Dauerasyl gewährt, auch wenn die Behörden im Thurgau noch 1952 mit dem Gedanken spielen, sie nach Deutschland abzuschieben. Von dort hat sie bis dahin eine Nothilfe erhalten. Eine Wiedergutmachung erhält sie nicht. Das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz kümmert sich schließlich um sie, begleicht Arzt- und Spitalskosten. Mittlerweile ist Emilie Haas kurz vor ihrem 80. Lebensjahr. Am 17. April 1957 stirbt sie bei einem Arztbesuch in St. Gallen.
Ihr Retter, Heinrich Kipphardt, überlebte das Ende des Krieges ebenfalls im Versteck als Deserteur im Siegerland. Gemeinsam mit seinem Sohn Heinar Kipphardt dem späteren zeitkritischen Dramatiker und Pionier des Dokumentartheaters.
[1] Verhörprotokoll Emilie Haas, St. Gallen, 29.3.1943, Dossier zu Emilie Haas; Schweizerisches Bundesarchiv, Bern
[2] Effektenverzeichnis Emilie Haas, St. Gallen, 29.3.1943, Dossier zu Emilie Haas; Schweizerisches Bundesarchiv, Bern
[3] https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_rhl_420615a.html, eingesehen am 13.1.2022.