7 Zweiundzwanzig Rorschacher Schülerinnen
Zweiundzwanzig Rorschacher Schülerinnen protestieren gegen die Schweizer Flüchtlingspolitik
Rorschach, 7. September 1942
Im August 1942 schließt der Schweizer Bundesrat die Grenzen endgültig für jüdische Flüchtlinge. Schon seit 1941 wissen die Schweizer Bundesbehörden davon, dass Juden im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten inzwischen systematisch ermordet werden.
Am 7. September 1942 schreiben 22 Schülerinnen der Klasse 2c der Mädchensekundarschule in Rorschach einen Brief an den Schweizer Bundesrat. Die Schülerinnen haben gerade aus dem Ostschweizer Tagblatt erfahren, dass einer jüdischen Familie die Flucht vor Nazideutschland über den Jura in die Westschweiz glückte, diese aber in der Folge aufgegriffen wurde und wieder über die Grenze in den sicheren Tod geschickt wurde.
„Rorschach, den 7. September 1942
Sehr geehrte Herren Bundesräte!
Wir können es nicht unterlassen, Ihnen mitzuteilen, dass wir in den Schulen aufs höchste empört sind, dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in das Elend zurückstösst. Hat man eigentlich ganz vergessen, dass Jesus gesagt hat: ‚Was ihr einem der Geringsten unter euch getan habt, das habt ihr mir getan.‘ Wir hätten uns nie träumen lassen, dass die Schweiz, die Friedensinsel, die barmherzig sein will, diese zitternden, frierenden Jammergestalten, wie Tiere über die Grenze wirft. Wird es uns nicht so gehen wie dem Reichen, der den armen Lazarus nicht gesehen hat. Was nützt es uns, wenn wir sagen können: Ja, im letzten Weltkrieg hat die Schweiz noch etwas geleistet, dürfte man nur erwähnen, was die Schweiz in diesem Kriege schon Gutes getan hat, besonders an den Emigranten. Haben nicht alle diese Menschen noch die ganze Hoffnung auf unser Land gelegt, und was für eine grausame schreckliche Enttäuschung muss es sein, wieder zurückgestossen zu werden, von wo sie gekommen sind, um dort dem sicheren Tod entgegenzugehen. Wenn das so weiter geht, können wir sicher sein, dass wir die Strafe noch bekommen. Es kann ja sein, dass Sie den Befehl erhalten haben, keine Juden aufzunehmen, aber der Wille Gottes ist es bestimmt nicht, doch wir haben Ihm mehr zu gehorchen als den Menschen. Wo wir zum Sammeln aufgerufen wurden, taten wir es sehr gerne für unser Heimatland und haben willig die Freizeit geopfert, deshalb erlauben wir uns für die Aufnahme dieser ärmsten Heimatlosen zu bitten!
Mit Hochachtung und Vaterländischer Verbundenheit grüssen:
Sekundarschule Klasse 2c“[1]
Der Bundesrat reagiert. Allerdings anders, als es sich die Schülerinnen vorgestellt haben. Offenkundig wittert die Regierung eine politisch gesteuerte Revolte. Justizminister Eduard von Steiger ordnet persönlich eine strenge Untersuchung und ein Verhör der Schülerinnen an. Am 23. Oktober 1942 werden die Kinder zweieinhalb Stunden lang in Anwesenheit des Schulratspräsidenten befragt. Den Anfang macht der Ermittler mit Heidi Weber, die den ersten Briefentwurf verfasst hat.
Frage: „Wer hat denn den Brief geschrieben?“
Antwort: „Ich.“
Frage: „Hat Dir jemand dabei geholfen?“
Antwort: „Nein, das heisst, die Mutter hat mir einzig gesagt, was ich für einen Schluss machen soll, weil ich darin keine Kenntnis hatte, wie man das bei Bundesräten machen soll.“
Frage: „Hat Deine Mutter den Brief gelesen?“
Antwort: „Ja.“
Frage: „War sie mit seinem Inhalt einverstanden?“
Antwort: „Die Mutter sagte nichts zum Geschriebenen, nur dass es recht sei, dass wir geschrieben haben.“
Frage: „Hast Du den Brief jemandem gezeigt, bevor Du ihn spediert hast; einem Lehrer oder sonst einem Erwachsenen?“
Antwort: „Nein, wir haben gefunden, wir wollen dies ganz allein machen, dann redet uns auch niemand drein.“
Frage: „Steht nichts im Brief, was eine Beleidigung für den Bundesrat sein könnte?“
Antwort: „Nein, ich glaube nicht. Und der Bundesrat wird wohl noch mehr solche Briefe bekommen haben.“
Frage: „Ihr wollte ihm also doch Vorwürfe machen?“
Antwort: „Nein, nein […] Ja warum, hat denn der Bundesrat sich beklagt?“
Frage: „Ja, es ist eine Beschwerde eingegangen und wir haben zu untersuchen, was ihr mit dem Briefe wolltet.“
Der Schulratspräsident liest eine Passage vor: „Es kann ja sein, dass sie den Befehl erhalten haben, keine Juden mehr aufzunehmen, aber der Wille Gottes ist es bestimmt nicht…“
Frage: „Weisst Du die schwerwiegende Bedeutung dieses Satzes nicht?“
Antwort: „Ich wollte mit diesem Satze sagen, dass wir verstehen, wenn der Bundesrat auf die Deutschen Rücksicht genommen hat, wie er auch bei der Einführung der Verdunkelung auf sie Rücksicht nehmen musste, denn für die Schweiz selbst wäre es doch nicht notwendig gewesen, zu verdunkeln.“
Verhörer: „Woher weisst Du das?“
Antwort: „Ja das sagt man überall.“
Der Schulratspräsident schaltet sich erneut ein: „Dann will ich Dir sagen, was dieser Satz bedeutet: Der Bundesrat hätte auf ausländischen Druck hin den Flüchtlingsstrom abgestoppt. Das heisst, der Bundesrat sei nicht mehr eigener Herr und Meister, er könne nicht mehr tun, war er für richtig finde, er sei nicht mehr frei, sondern müsse tun, was die Deutschen ihm vorschreiben. Das ist für den Bundesrat eine Beleidigung, über welche er sich mit Recht beklagt. Denn es ist ein starkes Stück, dass da ein paar junge, unerfahrene Mädchen, die kaum wissen, was überhaupt für das Leben notwendig ist, glauben, dem Bundesrat in Bern Lehren erteilen zu müssen.“[2]
Auch ihr Lehrer Richard Grünberger wird einem Verhör unterzogen, unter dem Verdacht womöglich den Anstoß zu dem Schreiben gegeben zu haben. Am Ende bleibt es bei strengen Ermahnungen an die Schülerinnen.
[1] Brief der Rorschacher Schülerinnen vom 07.09.1942, Diplomatische Dokumente der Schweiz, https://dodis.ch/12054, eingesehen am 13.06.2022.
[2] Untersuchungsprotokoll vom 23.10.1942, Diplomatische Dokumente der Schweiz, https://dodis.ch/35365, eingesehen am 13.06.2022.
7 Zweiundzwanzig Rorschacher Schülerinnen
Zweiundzwanzig Rorschacher Schülerinnen protestieren gegen die Schweizer Flüchtlingspolitik
Rorschach, 7. September 1942
Im August 1942 schließt der Schweizer Bundesrat die Grenzen endgültig für jüdische Flüchtlinge. Schon seit 1941 wissen die Schweizer Bundesbehörden davon, dass Juden im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten inzwischen systematisch ermordet werden.
Am 7. September 1942 schreiben 22 Schülerinnen der Klasse 2c der Mädchensekundarschule in Rorschach einen Brief an den Schweizer Bundesrat. Die Schülerinnen haben gerade aus dem Ostschweizer Tagblatt erfahren, dass einer jüdischen Familie die Flucht vor Nazideutschland über den Jura in die Westschweiz glückte, diese aber in der Folge aufgegriffen wurde und wieder über die Grenze in den sicheren Tod geschickt wurde.
„Rorschach, den 7. September 1942
Sehr geehrte Herren Bundesräte!
Wir können es nicht unterlassen, Ihnen mitzuteilen, dass wir in den Schulen aufs höchste empört sind, dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in das Elend zurückstösst. Hat man eigentlich ganz vergessen, dass Jesus gesagt hat: ‚Was ihr einem der Geringsten unter euch getan habt, das habt ihr mir getan.‘ Wir hätten uns nie träumen lassen, dass die Schweiz, die Friedensinsel, die barmherzig sein will, diese zitternden, frierenden Jammergestalten, wie Tiere über die Grenze wirft. Wird es uns nicht so gehen wie dem Reichen, der den armen Lazarus nicht gesehen hat. Was nützt es uns, wenn wir sagen können: Ja, im letzten Weltkrieg hat die Schweiz noch etwas geleistet, dürfte man nur erwähnen, was die Schweiz in diesem Kriege schon Gutes getan hat, besonders an den Emigranten. Haben nicht alle diese Menschen noch die ganze Hoffnung auf unser Land gelegt, und was für eine grausame schreckliche Enttäuschung muss es sein, wieder zurückgestossen zu werden, von wo sie gekommen sind, um dort dem sicheren Tod entgegenzugehen. Wenn das so weiter geht, können wir sicher sein, dass wir die Strafe noch bekommen. Es kann ja sein, dass Sie den Befehl erhalten haben, keine Juden aufzunehmen, aber der Wille Gottes ist es bestimmt nicht, doch wir haben Ihm mehr zu gehorchen als den Menschen. Wo wir zum Sammeln aufgerufen wurden, taten wir es sehr gerne für unser Heimatland und haben willig die Freizeit geopfert, deshalb erlauben wir uns für die Aufnahme dieser ärmsten Heimatlosen zu bitten!
Mit Hochachtung und Vaterländischer Verbundenheit grüssen:
Sekundarschule Klasse 2c“[1]
Der Bundesrat reagiert. Allerdings anders, als es sich die Schülerinnen vorgestellt haben. Offenkundig wittert die Regierung eine politisch gesteuerte Revolte. Justizminister Eduard von Steiger ordnet persönlich eine strenge Untersuchung und ein Verhör der Schülerinnen an. Am 23. Oktober 1942 werden die Kinder zweieinhalb Stunden lang in Anwesenheit des Schulratspräsidenten befragt. Den Anfang macht der Ermittler mit Heidi Weber, die den ersten Briefentwurf verfasst hat.
Frage: „Wer hat denn den Brief geschrieben?“
Antwort: „Ich.“
Frage: „Hat Dir jemand dabei geholfen?“
Antwort: „Nein, das heisst, die Mutter hat mir einzig gesagt, was ich für einen Schluss machen soll, weil ich darin keine Kenntnis hatte, wie man das bei Bundesräten machen soll.“
Frage: „Hat Deine Mutter den Brief gelesen?“
Antwort: „Ja.“
Frage: „War sie mit seinem Inhalt einverstanden?“
Antwort: „Die Mutter sagte nichts zum Geschriebenen, nur dass es recht sei, dass wir geschrieben haben.“
Frage: „Hast Du den Brief jemandem gezeigt, bevor Du ihn spediert hast; einem Lehrer oder sonst einem Erwachsenen?“
Antwort: „Nein, wir haben gefunden, wir wollen dies ganz allein machen, dann redet uns auch niemand drein.“
Frage: „Steht nichts im Brief, was eine Beleidigung für den Bundesrat sein könnte?“
Antwort: „Nein, ich glaube nicht. Und der Bundesrat wird wohl noch mehr solche Briefe bekommen haben.“
Frage: „Ihr wollte ihm also doch Vorwürfe machen?“
Antwort: „Nein, nein […] Ja warum, hat denn der Bundesrat sich beklagt?“
Frage: „Ja, es ist eine Beschwerde eingegangen und wir haben zu untersuchen, was ihr mit dem Briefe wolltet.“
Der Schulratspräsident liest eine Passage vor: „Es kann ja sein, dass sie den Befehl erhalten haben, keine Juden mehr aufzunehmen, aber der Wille Gottes ist es bestimmt nicht…“
Frage: „Weisst Du die schwerwiegende Bedeutung dieses Satzes nicht?“
Antwort: „Ich wollte mit diesem Satze sagen, dass wir verstehen, wenn der Bundesrat auf die Deutschen Rücksicht genommen hat, wie er auch bei der Einführung der Verdunkelung auf sie Rücksicht nehmen musste, denn für die Schweiz selbst wäre es doch nicht notwendig gewesen, zu verdunkeln.“
Verhörer: „Woher weisst Du das?“
Antwort: „Ja das sagt man überall.“
Der Schulratspräsident schaltet sich erneut ein: „Dann will ich Dir sagen, was dieser Satz bedeutet: Der Bundesrat hätte auf ausländischen Druck hin den Flüchtlingsstrom abgestoppt. Das heisst, der Bundesrat sei nicht mehr eigener Herr und Meister, er könne nicht mehr tun, war er für richtig finde, er sei nicht mehr frei, sondern müsse tun, was die Deutschen ihm vorschreiben. Das ist für den Bundesrat eine Beleidigung, über welche er sich mit Recht beklagt. Denn es ist ein starkes Stück, dass da ein paar junge, unerfahrene Mädchen, die kaum wissen, was überhaupt für das Leben notwendig ist, glauben, dem Bundesrat in Bern Lehren erteilen zu müssen.“[2]
Auch ihr Lehrer Richard Grünberger wird einem Verhör unterzogen, unter dem Verdacht womöglich den Anstoß zu dem Schreiben gegeben zu haben. Am Ende bleibt es bei strengen Ermahnungen an die Schülerinnen.
[1] Brief der Rorschacher Schülerinnen vom 07.09.1942, Diplomatische Dokumente der Schweiz, https://dodis.ch/12054, eingesehen am 13.06.2022.
[2] Untersuchungsprotokoll vom 23.10.1942, Diplomatische Dokumente der Schweiz, https://dodis.ch/35365, eingesehen am 13.06.2022.