50 Martha und Elisabeth Nehab
Nichts mehr zu verlieren: Martha und Elisabeth Nehab aus Berlin auf dem Weg zum Sarotlapass
Gargellen, 24. September 1942
In Gargellen und St. Gallenkirch erinnern sich manche noch an zwei Jüdinnen, die versucht hatten, über den Sarotlapass in die Schweiz zu fliehen. Wer die beiden Frauen waren, blieb lange Zeit unbekannt. Und die Berichte von Zeitzeugen widersprachen sich. Mal ist von jungen Frauen die Rede, oder von Mädchen, mal von alten Frauen mit schlohweißem Haar. Eine Zeugin der Inhaftierung der beiden Frauen berichtet davon, wie sie, gerade selbst mit Molke, Milch und Käse von der Alp heruntergekommen, ihre Last auf einen Traktor laden wollte, der gerade Holz ins Tal transportierte.
„Und da ist dann noch ein Zöllner immer hin und her marschiert, bei der Brücke mit einem Gewehr. […] Und er hat immer vor sich hin gelacht. Und ich habe mir gedacht: was wird der nur haben? Und dann hat der da auf diese Holzrollen geschaut, hinüber. Und dann haben wir gesehen, dass da zwei alte schlohweißhaarige Frauen (wiba) dort zusammengebunden gewesen sind, damit sie nicht weglaufen. Und dann haben die Holzarbeiter hergeschrien: ‚Ihr dürft mit denen nicht reden! Das sind Judenweiber!‘ Wir haben uns aber doch ein bisschen, so beim Vorbeigehen, etwas erzählt. ‚Die Mutter und den Bruder haben wir in diesen Gaskammern…‘ Und ihnen werde es wohl auch so gehen…
Die wollten über die Grenze gehen. In Gargellen haben sie eine Pension gemietet. Da sind sie nachher ein paar Tage dort gewesen und haben alles auskundschaftet. Und da sind sie, Sarotla, da in die Alp hinauf mit einem Kamm und einem Kübel, als Ausrede, zum Beeren sammeln. […]
Und dann er gesagt, hat der Zöllner zu uns gesagt: ‚Ich wäre ein reicher Mann!‘ hat er gesagt. Wenn er sie durchgelassen hätte. Die hätten Schmuck und Geld bei sich gehabt. Und gebeten und gebettelt und geweint hätten sie: ‚Lass uns über die Grenze!‘ Kurz vor der Grenze waren sie.“[1]
Manche Zeitzeugen berichten, die Frauen hätten einen Schlepper angeheuert, der sie verraten hätte. Andere berichten, dass die beiden Frauen zu wenig Geld oder Wertsachen bei sich gehabt hätten, um einen Fluchthelfer bezahlen zu können. Am 24. September 1942 jedenfalls wurden sie im Gemeindearrest im Keller des alten Schulhauses in St. Gallenkirch eingesperrt um am nächsten Morgen abtransportiert zu werden. Doch die beiden Frauen kamen ihrer Deportation zuvor.
„Ich war damals 13 Jahre alt. […] Durch die Freundschaft zu dem Sohn des Gendarmen erfuhr ich von dem Vorfall im Gemeindearrest. Der Freund sagte damals zu mir, das sich zwei Jüdinnen in der Kiecha aufgehängt hatten. Da wir beide sehr neugierig waren, beschlossen wir zum Ort des Geschehens zu gehen, um es selbst mit eigenen Augen zu sehen. […] Der Anblick, der sich uns dabei bot, hat mich noch lange Zeit beschäftigt und in Gedanken verfolgt. Ich sah die beiden jungen Frauen, die sich mit einer dünnen Schnur am Fensterkreuz erhängt hatten. Sie waren einander gegenüber am Boden knieend, die Köpfe waren zum Boden geneigt, und die Mädchen hielten einander noch die Hände. Diese Haltung war für mich sehr schockierend und unerwartet zugleich, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Die Mädchen waren Geschwister und außerdem sehr jung, waren nämlich 16 und 19 Jahre alt.“[2]
Tatsächlich waren die beiden Frauen Schwestern, fast gleich alt, allerdings keine Mädchen mehr. Martha Nehab ist 50 Jahre alt, ihre Schwester Elisabeth ein Jahr älter, als sie von Berlin ins Montafon reisen, um sich in die Schweiz zu retten. 1938 haben sie wohl vergeblich versucht, als Sportlehrerinnen ein Visum und eine Arbeitserlaubnis für Großbritannien zu erhalten. Und blieben schließlich bei ihrer verwitweten Mutter in Berlin.
Doch Anfang August 1942 nimmt sich ihre Mutter Blanca Nehab in Berlin das Leben, um der Deportation zu entgehen. Martha und Elisabeth Nehab haben nichts mehr zu verlieren. Am 15. September erreichen sie das Hotel Madrisa in Gargellen. Mehr als eine Woche verbringen sie dort noch. Auf der Suche nach einem Weg über die Grenze.
Am 25. September 1942 werden ihre Leichname in die Anatomie in Innsbruck eingeliefert.[3]
[1] Edith Hessenberger, „Gescheiterte Grenzüberschreitungen. Geschichten die man nicht vergisst.“, in: Andreas Rudigier, Edith Hessenberger, Michael Kasper, Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Schruns: Montafoner Museen Heimatschutzverein Montafon, 2008, S. 188f.
[2] Irina Wieser, Endstation „Kiecha“. Das tragische Schicksal zweier jüdischer Frauen im Montafon. Seminararbeit. Bregenz 2003, Anhang S. 6, zitiert nach Hessenberger, „Gescheiterte Grenzüberschreitungen“, S. 191.
[3] Leichenbuch 1929-1950 der Anatomie der Universität Innsbruck, Eintrag 440 und 441. Erst 2020 führt eine Recherche von Niko Hofinger über die Geschichte der Innsbrucker Anatomie während des Krieges zu den Namen von Martha und Elisabeth Nehab und dem Datum ihres Todes.
50 Martha und Elisabeth Nehab
Nichts mehr zu verlieren: Martha und Elisabeth Nehab aus Berlin auf dem Weg zum Sarotlapass
Gargellen, 24. September 1942
In Gargellen und St. Gallenkirch erinnern sich manche noch an zwei Jüdinnen, die versucht hatten, über den Sarotlapass in die Schweiz zu fliehen. Wer die beiden Frauen waren, blieb lange Zeit unbekannt. Und die Berichte von Zeitzeugen widersprachen sich. Mal ist von jungen Frauen die Rede, oder von Mädchen, mal von alten Frauen mit schlohweißem Haar. Eine Zeugin der Inhaftierung der beiden Frauen berichtet davon, wie sie, gerade selbst mit Molke, Milch und Käse von der Alp heruntergekommen, ihre Last auf einen Traktor laden wollte, der gerade Holz ins Tal transportierte.
„Und da ist dann noch ein Zöllner immer hin und her marschiert, bei der Brücke mit einem Gewehr. […] Und er hat immer vor sich hin gelacht. Und ich habe mir gedacht: was wird der nur haben? Und dann hat der da auf diese Holzrollen geschaut, hinüber. Und dann haben wir gesehen, dass da zwei alte schlohweißhaarige Frauen (wiba) dort zusammengebunden gewesen sind, damit sie nicht weglaufen. Und dann haben die Holzarbeiter hergeschrien: ‚Ihr dürft mit denen nicht reden! Das sind Judenweiber!‘ Wir haben uns aber doch ein bisschen, so beim Vorbeigehen, etwas erzählt. ‚Die Mutter und den Bruder haben wir in diesen Gaskammern…‘ Und ihnen werde es wohl auch so gehen…
Die wollten über die Grenze gehen. In Gargellen haben sie eine Pension gemietet. Da sind sie nachher ein paar Tage dort gewesen und haben alles auskundschaftet. Und da sind sie, Sarotla, da in die Alp hinauf mit einem Kamm und einem Kübel, als Ausrede, zum Beeren sammeln. […]
Und dann er gesagt, hat der Zöllner zu uns gesagt: ‚Ich wäre ein reicher Mann!‘ hat er gesagt. Wenn er sie durchgelassen hätte. Die hätten Schmuck und Geld bei sich gehabt. Und gebeten und gebettelt und geweint hätten sie: ‚Lass uns über die Grenze!‘ Kurz vor der Grenze waren sie.“[1]
Manche Zeitzeugen berichten, die Frauen hätten einen Schlepper angeheuert, der sie verraten hätte. Andere berichten, dass die beiden Frauen zu wenig Geld oder Wertsachen bei sich gehabt hätten, um einen Fluchthelfer bezahlen zu können. Am 24. September 1942 jedenfalls wurden sie im Gemeindearrest im Keller des alten Schulhauses in St. Gallenkirch eingesperrt um am nächsten Morgen abtransportiert zu werden. Doch die beiden Frauen kamen ihrer Deportation zuvor.
„Ich war damals 13 Jahre alt. […] Durch die Freundschaft zu dem Sohn des Gendarmen erfuhr ich von dem Vorfall im Gemeindearrest. Der Freund sagte damals zu mir, das sich zwei Jüdinnen in der Kiecha aufgehängt hatten. Da wir beide sehr neugierig waren, beschlossen wir zum Ort des Geschehens zu gehen, um es selbst mit eigenen Augen zu sehen. […] Der Anblick, der sich uns dabei bot, hat mich noch lange Zeit beschäftigt und in Gedanken verfolgt. Ich sah die beiden jungen Frauen, die sich mit einer dünnen Schnur am Fensterkreuz erhängt hatten. Sie waren einander gegenüber am Boden knieend, die Köpfe waren zum Boden geneigt, und die Mädchen hielten einander noch die Hände. Diese Haltung war für mich sehr schockierend und unerwartet zugleich, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Die Mädchen waren Geschwister und außerdem sehr jung, waren nämlich 16 und 19 Jahre alt.“[2]
Tatsächlich waren die beiden Frauen Schwestern, fast gleich alt, allerdings keine Mädchen mehr. Martha Nehab ist 50 Jahre alt, ihre Schwester Elisabeth ein Jahr älter, als sie von Berlin ins Montafon reisen, um sich in die Schweiz zu retten. 1938 haben sie wohl vergeblich versucht, als Sportlehrerinnen ein Visum und eine Arbeitserlaubnis für Großbritannien zu erhalten. Und blieben schließlich bei ihrer verwitweten Mutter in Berlin.
Doch Anfang August 1942 nimmt sich ihre Mutter Blanca Nehab in Berlin das Leben, um der Deportation zu entgehen. Martha und Elisabeth Nehab haben nichts mehr zu verlieren. Am 15. September erreichen sie das Hotel Madrisa in Gargellen. Mehr als eine Woche verbringen sie dort noch. Auf der Suche nach einem Weg über die Grenze.
Am 25. September 1942 werden ihre Leichname in die Anatomie in Innsbruck eingeliefert.[3]
[1] Edith Hessenberger, „Gescheiterte Grenzüberschreitungen. Geschichten die man nicht vergisst.“, in: Andreas Rudigier, Edith Hessenberger, Michael Kasper, Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Schruns: Montafoner Museen Heimatschutzverein Montafon, 2008, S. 188f.
[2] Irina Wieser, Endstation „Kiecha“. Das tragische Schicksal zweier jüdischer Frauen im Montafon. Seminararbeit. Bregenz 2003, Anhang S. 6, zitiert nach Hessenberger, „Gescheiterte Grenzüberschreitungen“, S. 191.
[3] Leichenbuch 1929-1950 der Anatomie der Universität Innsbruck, Eintrag 440 und 441. Erst 2020 führt eine Recherche von Niko Hofinger über die Geschichte der Innsbrucker Anatomie während des Krieges zu den Namen von Martha und Elisabeth Nehab und dem Datum ihres Todes.