49 Meinrad Juen
Vom Schmuggler zum Retter: der schillernde Abenteurer Meinrad Juen
St. Gallenkirch, 1938 bis 1942
In den letzten Kriegstagen bricht die Gefolgschaft der Nationalsozialisten im Montafon zusammen. Eine Parteiversammlung am 20. April 1945 wird von den meisten boykottiert, desertierte Soldaten halten sich in den Bergen versteckt, der Volkssturm erzwingt am 1. Mai seine Freigabe, Widerständler versuchen Soldaten zu entwaffnen. In diesen Tagen kehrt auch der seit langem gesuchte Meinrad Juen ins Dorf St. Gallenkirch zurück. Schon im Juni verklärt der Gendarmerieposten von St. Gallenkirch die teilweise chaotischen Verhältnisse unter dem Druck des französischen Vormarsches nach Vorarlberg als „Umsturz“. Österreich will sich, wenigstens im Nachhinein, selbst befreit haben. Auch im Montafon.
Der Mut der Schmuggler und Schlepper wird nun positiv herausgestellt.
„Ungefähr zur gleichen Zeit zeigte sich auch der vor 2 ½ Jahren verhaftete und dann entsprungene Meinrad Juen aus St. Gallenkirch, der 42 Juden über die Schweizer Grenze verhalf, wieder unter den Mitbürgern.“[1]
Meinrad Juen ist heute im Tal eine legendäre Figur. Das lag nicht zuletzt an seiner schillernden Persönlichkeit, ein Abenteurer, der schon immer gegenüber Autoritäten und Gesetzen widerständiges Verhalten zeigte. 1886 in St. Gallenkirch geboren, war er schon früh als gewerbsmäßiger Schmuggler von Zucker, Zigarren und Kaffee, Tabak oder Saccharin erfolgreich. Im 1. Weltkrieg kann er sich mit List vom mörderischen Fronteinsatz fernhalten. Nach dem Krieg betreibt er mit seiner Frau Ida zeitweise eine kleine Landwirtschaft und eine Kantine für Bauarbeiter, schlachtet und metzgert schwarz und schmuggelt auch wieder. Doch 1938 – Juen ist wohl einer der zwei im Dorf, die sich trauen, gegen den Anschluss zu stimmen – ist es mit dem Warenschmuggel erst einmal vorbei. Jetzt geht es um Menschen. Auch damit verdient Juen nicht wenig Geld. Sein Bruder Wilhelm hilft ihm dabei.
Herbert Juen, Wilhelms Sohn, erinnert sich noch lebendig an diese Zeit:
„Am Freitag vor dem 2. Schrunser Markt anno 42, […] da haben sie sieben Juden in die Schweiz hinüber geschmuggelt, ja viele Male haben sie miteinander Juden hinüber geschmuggelt. […] Ich bin da ein zehnjähriger Bub gewesen, ich hab geholfen füttern und Kühe striegeln, die hat man auf den Schrunser Markt treiben müssen dazumal. Ich hab nicht gewusst wo der Vater ist. […] Auf einmal ist er verschwitzt gekommen, nass, verschwitzt, dann hat er sich umgezogen und dann hab ich die zwei Kühlein treiben müssen.“
Auf den Markt kam man mit Verspätung und hat gut verdient. Aber auf dem Heimweg erzählt der Vater, die Fluchthilfe für die sieben Juden aus Wien hätte mehr eingebracht, als der Verkauf der Kühe.
„Also mein Onkel und mein Vater, sie haben schön verdient dabei, ganz sicher, ja – aber […] da ist es um Kopf und Kragen gegangen.“[2]
Das Risiko, das sie eingehen ist hoch. Doch sie kennen dort jeden Felsen, hinter dem man Schutz vor den Patrouillen findet. Und so einige Finten, um die Grenzwächter abzulenken. Mit ihnen haben die Flüchtlinge sogar eine Chance, Gepäck mitnehmen zu können, das die Brüder von Gargellen aus über die Bergpässe schleppen. Als Treffpunkt dient das Montafonerhaus, außerhalb des Ortes, wo der Weg hinauf nach Gargellen abzweigt.
Im Oktober 1942 wird Meinrad Juen verhaftet. Ob es eine Hausdurchsuchung in einer Wiener Wohnung ist, bei der ein Brief mit seiner Adresse gefunden wird – oder ein durch die Zensur aufgeflogener Brief aus der Schweiz? Ein Gendarm, der zugleich ein guter Kunde von ihm ist, wenn es um Mangelwaren wie Fleisch oder Butter geht, soll Juen nach Schruns ins Gefängnis bringen. Aber er gestattet ihm unterwegs auch einen Besuch bei seiner Schwester Ludwina.
Juen behauptet, aufs Klo zu müssen, und nutzt die Gelegenheit, durch die Hintertür zu entkommen.
Zweieinhalb Jahre lang taucht Juen unter, lebt im Versteck bei wechselnden Verwandten und Freunden, zum Beispiel dem späteren Bürgermeister Salzgeber. Und er schlachtet wieder illegal Vieh für die Bauern und treibt seinen Schwarzhandel im Verborgenen.
Davon wird Meinrad Juen auch nach dem Krieg noch leben. An Geld hat es ihm nicht gemangelt. Sein Familienleben hingegen verlief weniger glücklich. Doch das ist eine andere Geschichte.
Vier Jahre sind ihm noch gegönnt. Am 3. März 1949 wird er neben seinem Bett tot aufgefunden. Gerüchte gab es auch über seinen Tod. Vermutlich aber starb er, nach seinem abenteuerlichen Leben, ganz unabenteuerlich an einem Herzinfarkt.[3]
[1] Bericht des Gendarmeriepostens St. Gallenkirch vom 22. Juni 1945 an das Bezirksgendarmeriekommando in Bludenz, abgedruckt in: 15 Orte – 15 Geschichten. Texte verorten Erinnerungen an den Nationalsozialismus im Montafon. Schruns 2021, S. 28.
[2] Edith Hessenberger: Interview mit Herbert Juen, 22.11.1994.
[3] Zu Meinrad Juen siehe vor allem: Edith Hessenberger, „Menschen-Schmuggler-Schlepper. Eine Annäherung an das Geschäft mit der Grenze am Beispiel der Biografie Meinrad Juens“, in: Edith Hessenberger (Hg.), Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Schruns 2008, S. 147-176.
49 Meinrad Juen
Vom Schmuggler zum Retter: der schillernde Abenteurer Meinrad Juen
St. Gallenkirch, 1938 bis 1942
In den letzten Kriegstagen bricht die Gefolgschaft der Nationalsozialisten im Montafon zusammen. Eine Parteiversammlung am 20. April 1945 wird von den meisten boykottiert, desertierte Soldaten halten sich in den Bergen versteckt, der Volkssturm erzwingt am 1. Mai seine Freigabe, Widerständler versuchen Soldaten zu entwaffnen. In diesen Tagen kehrt auch der seit langem gesuchte Meinrad Juen ins Dorf St. Gallenkirch zurück. Schon im Juni verklärt der Gendarmerieposten von St. Gallenkirch die teilweise chaotischen Verhältnisse unter dem Druck des französischen Vormarsches nach Vorarlberg als „Umsturz“. Österreich will sich, wenigstens im Nachhinein, selbst befreit haben. Auch im Montafon.
Der Mut der Schmuggler und Schlepper wird nun positiv herausgestellt.
„Ungefähr zur gleichen Zeit zeigte sich auch der vor 2 ½ Jahren verhaftete und dann entsprungene Meinrad Juen aus St. Gallenkirch, der 42 Juden über die Schweizer Grenze verhalf, wieder unter den Mitbürgern.“[1]
Meinrad Juen ist heute im Tal eine legendäre Figur. Das lag nicht zuletzt an seiner schillernden Persönlichkeit, ein Abenteurer, der schon immer gegenüber Autoritäten und Gesetzen widerständiges Verhalten zeigte. 1886 in St. Gallenkirch geboren, war er schon früh als gewerbsmäßiger Schmuggler von Zucker, Zigarren und Kaffee, Tabak oder Saccharin erfolgreich. Im 1. Weltkrieg kann er sich mit List vom mörderischen Fronteinsatz fernhalten. Nach dem Krieg betreibt er mit seiner Frau Ida zeitweise eine kleine Landwirtschaft und eine Kantine für Bauarbeiter, schlachtet und metzgert schwarz und schmuggelt auch wieder. Doch 1938 – Juen ist wohl einer der zwei im Dorf, die sich trauen, gegen den Anschluss zu stimmen – ist es mit dem Warenschmuggel erst einmal vorbei. Jetzt geht es um Menschen. Auch damit verdient Juen nicht wenig Geld. Sein Bruder Wilhelm hilft ihm dabei.
Herbert Juen, Wilhelms Sohn, erinnert sich noch lebendig an diese Zeit:
„Am Freitag vor dem 2. Schrunser Markt anno 42, […] da haben sie sieben Juden in die Schweiz hinüber geschmuggelt, ja viele Male haben sie miteinander Juden hinüber geschmuggelt. […] Ich bin da ein zehnjähriger Bub gewesen, ich hab geholfen füttern und Kühe striegeln, die hat man auf den Schrunser Markt treiben müssen dazumal. Ich hab nicht gewusst wo der Vater ist. […] Auf einmal ist er verschwitzt gekommen, nass, verschwitzt, dann hat er sich umgezogen und dann hab ich die zwei Kühlein treiben müssen.“
Auf den Markt kam man mit Verspätung und hat gut verdient. Aber auf dem Heimweg erzählt der Vater, die Fluchthilfe für die sieben Juden aus Wien hätte mehr eingebracht, als der Verkauf der Kühe.
„Also mein Onkel und mein Vater, sie haben schön verdient dabei, ganz sicher, ja – aber […] da ist es um Kopf und Kragen gegangen.“[2]
Das Risiko, das sie eingehen ist hoch. Doch sie kennen dort jeden Felsen, hinter dem man Schutz vor den Patrouillen findet. Und so einige Finten, um die Grenzwächter abzulenken. Mit ihnen haben die Flüchtlinge sogar eine Chance, Gepäck mitnehmen zu können, das die Brüder von Gargellen aus über die Bergpässe schleppen. Als Treffpunkt dient das Montafonerhaus, außerhalb des Ortes, wo der Weg hinauf nach Gargellen abzweigt.
Im Oktober 1942 wird Meinrad Juen verhaftet. Ob es eine Hausdurchsuchung in einer Wiener Wohnung ist, bei der ein Brief mit seiner Adresse gefunden wird – oder ein durch die Zensur aufgeflogener Brief aus der Schweiz? Ein Gendarm, der zugleich ein guter Kunde von ihm ist, wenn es um Mangelwaren wie Fleisch oder Butter geht, soll Juen nach Schruns ins Gefängnis bringen. Aber er gestattet ihm unterwegs auch einen Besuch bei seiner Schwester Ludwina.
Juen behauptet, aufs Klo zu müssen, und nutzt die Gelegenheit, durch die Hintertür zu entkommen.
Zweieinhalb Jahre lang taucht Juen unter, lebt im Versteck bei wechselnden Verwandten und Freunden, zum Beispiel dem späteren Bürgermeister Salzgeber. Und er schlachtet wieder illegal Vieh für die Bauern und treibt seinen Schwarzhandel im Verborgenen.
Davon wird Meinrad Juen auch nach dem Krieg noch leben. An Geld hat es ihm nicht gemangelt. Sein Familienleben hingegen verlief weniger glücklich. Doch das ist eine andere Geschichte.
Vier Jahre sind ihm noch gegönnt. Am 3. März 1949 wird er neben seinem Bett tot aufgefunden. Gerüchte gab es auch über seinen Tod. Vermutlich aber starb er, nach seinem abenteuerlichen Leben, ganz unabenteuerlich an einem Herzinfarkt.[3]
[1] Bericht des Gendarmeriepostens St. Gallenkirch vom 22. Juni 1945 an das Bezirksgendarmeriekommando in Bludenz, abgedruckt in: 15 Orte – 15 Geschichten. Texte verorten Erinnerungen an den Nationalsozialismus im Montafon. Schruns 2021, S. 28.
[2] Edith Hessenberger: Interview mit Herbert Juen, 22.11.1994.
[3] Zu Meinrad Juen siehe vor allem: Edith Hessenberger, „Menschen-Schmuggler-Schlepper. Eine Annäherung an das Geschäft mit der Grenze am Beispiel der Biografie Meinrad Juens“, in: Edith Hessenberger (Hg.), Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Schruns 2008, S. 147-176.