48 Ingeborg Neufeld
Untergetaucht und über die Berge: Meinrad Juen bringt Ingeborg Neufeld und ihre Familie über die Grenze
Gargellen, Oktober 1942
„Im September 1942 erging an uns der Befehl, uns beim Bahnhof einzufinden, Transport nach Osten, hieß es. Zu der Zeit wussten wir alle, ob Christen oder Juden, was in Polen geschah. Nicht im Detail, aber man wusste, worauf es hinauslief. Junge SS-Männer prahlten mit ihren Erlebnissen hinter der Front.“[1]
Ingeborg Neufeld, ihre Mutter Hildegard und ihr Bruder Hans Walter haben bis dahin in Wien überlebt, mit Zwangsarbeit in „kriegswichtigen Betrieben“. Nun suchen sie nach einem Weg, gemeinsam mit dem Musiker Otto Kollmann, Inges Verlobtem, der Deportation zu entgehen.
„Meine Mutter hatte einen Jugendfreund gehabt, der Monarchist war, überdies ein echter Graf, ein Herr von Benedek. […] Unser Graf hatte eine heiße Liebesgeschichte mit meiner Mutter gehabt, aber sie durften nicht heiraten, denn sie stammte aus einer reichen jüdischen Familie und er aus verarmtem Adel. Es wäre eine gute Ehe geworden, und ich hätte eine Gräfin sein können. [...]
Herr von Benedek bewies uns seine Liebe auf andere Weise. Er besaß ein Gut in St. Gallenkirch bei Schruns, an der österreichisch-schweizerischen Grenze. Dort kannte er die Familie Juen, die in Ferienzeiten Gäste aufnahm. Das Dorf lebte seit ewigen Zeiten vom Schmuggel: Kaffee, Zigaretten, und seit kurzem auch Menschen. Die Juens kannten die geheimen Wege, sie hatten ihre Kontakte zu den Grenzsoldaten. Graf Benedek kam, als meine Mutter rief, nach Wien. Er plante unsere Flucht mit Hilfe der Juens. […]
Am Morgen war es entschieden, dass wir nicht zur vorgesehenen Stunde einrückten. Nun waren wir gejagtes Wild. Wir dachten, dass wir die falschen Papiere in zwei bis drei Tagen hätten. Es wurden sechs Wochen daraus.
Ich hatte meine falschen Papiere von der Fabrik, Mama hatte sie von Benedek, das Problem waren Otto und mein Bruder. Außerdem waren die Juens noch nicht bereit, uns aufzunehmen, es war noch Hochsaison im Touristendorf, es gab also zu viele Beobachter dort. Es hieß vorerst durchhalten in Wien. Wir beschlossen, uns getrennt durchzuschlagen. Als Treffpunkt bestimmten wir einen Brückenbogen am Gürtel, jeden Tag einen weiter, jeden Tag eine halbe Stunde später. […] Wir gingen manchmal nur aneinander vorbei, flüsterten uns Informationen zu. Meine Aufgabe war es, täglich im 7. Bezirk an einer Straßenecke von einem Mitglied der Untergrundbewegung vier Schlafadressen zu hören, sie mir zu merken und an Mama und meinen Bruder weiterzusagen. […] Ich versuchte immer mit Otto zusammenzubleiben. […] Die Namen unserer Gastgeber wussten wir nie. Meist waren es sehr einfache Leute, Kommunisten oder Sozialdemokraten, aber auch andere, die sich, vor allem nach Stalingrad, eine weiße Weste erwerben wollten.“
Nach Wochen des Wartens im Untergrund sind für alle die falschen Papiere organisiert. Im Oktober reisen sie über München nach Vorarlberg, überstehen mehrere Kontrollen, und erreichen schließlich über Bregenz und Schruns die Familie Juen in St. Gallenkirch.
„Ich wollte um jeden Preis leben. Die Kuhglocken klangen, die Kirchenglocke rief die Herde heim. Man servierte uns längst vergessene Köstlichkeiten, frische Früchte, Fleisch, alles trieb mich dem Leben zu.
Wir sollten eine Woche bleiben, um uns zu kräftigen, aber in der dritten Nacht kam Herr Juen plötzlich herein und sagte, wir müssten sogleich fort, man hätte uns angezeigt. Wir sollten nur das Nötigste mitnehmen, wir hätten keine Träger, nur er und sein Bruder würden uns führen.
Unterwegs warf ich noch sehr viel weg, denn wir kletterten steile Pfade aufwärts und durften keine Geräusche machen. Es war Ende Oktober und sehr kalt. Ich rutschte in ein Loch. Juen warf mir ein Seil zu und zog mich hoch, danach konnte ich nicht mehr schnaufen, und so trug er mich ein Stück. Otto hatte rutschige Schuhe an, Mama musste ihn fast den ganzen Weg ziehen. Einige Stunden lang mussten wir in einer Mulde bewegungslos liegen bleiben, weil Soldaten vorbeizogen. Ich schmiegte mich an Otto. Obwohl wir so oft im selben Bett geschlafen hatten, war ich immer noch Jungfrau. Die gutbürgerlichen Vorurteile bestanden fort in allen Gefahren. Wir zitterten vor Angst, Kälte und Bedauern über ungelebte Liebesnächte. …
Bei Tagesanbruch zogen wir weiter, teils umgab uns schon Schnee. Man rutschte. Weiter, weiter, drängte Juen. Die Wachen sind bestochen, ihr müsst zu einer gewissen Zeit an ihnen vorbei schleichen. Mama hatte Juen ihren ganzen verbliebenen Schmuck gegeben für diese Flucht. Viele Frauen retteten den Schmuck, und die Kinder kamen um. Viele Schmuggler nahmen Gold und Geld, und zeigten dann die Verfolgten an. Bei unserer Rettung geschahen tausend Wunder.
Die Wachen zeigten nicht das erwartete Lichtsignal. Vielleicht waren sie ausgewechselt worden, vielleicht hatte uns jemand angezeigt. Wir hielten an einem Felsspalt, den man kaum sah. Die Juens drängten uns durch, sie flüsterten, nun könnten sie nicht weiter mit uns gehen, übergaben uns, was sie an Gepäck für uns getragen hatten, und sagten: Lauft, lauft, so rasch ihr könnt. Drüben ist die Schweiz. Und wir liefen.
Sie nahmen meiner Mutter den letzten Schmuck ab, aber sie brachten uns herüber. Mein Bruder hielt nach dem Krieg engen Kontakt mit den Juens, er war oft in Österreich bei ihnen, half ihnen in den schwierigen Jahren nach 1945. Ich war auf einer Reise nach Berlin dort, das halbe Dorf ist von Juens bewohnt.“
Auf Ingeborg Neufeld warten auch nach ihrer Flucht in die Schweiz schwierige Jahre.
Das Kriegsende erlebt sie nach zwei Jahren in einem Schweizer Arbeitslager schließlich in Lugano. Dort werden sie und ihr Verlobter vom amerikanischen Geheimdienst engagiert und Zeuge geheimer Verhandlungen mit dem deutschen SS-General Wolff über einen vorzeitigen Waffenstillstand in Oberitalien.
Ihr Leben hält da noch so manche amourösen und musikalischen Abenteuer für sie bereit, von denen sie in ihrer Autobiografie „Die Partisanenvilla“ genüsslich berichtet. Doch die schreibt sie schon unter ihrem späteren Namen Inge Ginsberg.
2021 stirbt sie in Zürich, nicht ohne es der Welt noch einmal gezeigt zu haben, wieviel Energie auch in einer 90jährigen stecken kann. In den 1950er Jahren hatte sie schon mit ihrem ersten Mann, Otto Kollmann, Songs für Schlagerinterpreten geschrieben. Nun tritt sie zwischen 2014 und 2016 gleich dreimal mit der Heavy Metal Band The Tritone Kings bei der Schweizer Vorentscheidung für den Eurovision Song Contest an. Unter anderem mit dem Lied „Totenköpfchen“.
[1] Inge Ginsberg, Die Partisanenvilla. Erinnerungen an Flucht, Geheimdienst und zahlreiche Schlager. München 2008, S. 65ff.
48 Ingeborg Neufeld
Untergetaucht und über die Berge: Meinrad Juen bringt Ingeborg Neufeld und ihre Familie über die Grenze
Gargellen, Oktober 1942
„Im September 1942 erging an uns der Befehl, uns beim Bahnhof einzufinden, Transport nach Osten, hieß es. Zu der Zeit wussten wir alle, ob Christen oder Juden, was in Polen geschah. Nicht im Detail, aber man wusste, worauf es hinauslief. Junge SS-Männer prahlten mit ihren Erlebnissen hinter der Front.“[1]
Ingeborg Neufeld, ihre Mutter Hildegard und ihr Bruder Hans Walter haben bis dahin in Wien überlebt, mit Zwangsarbeit in „kriegswichtigen Betrieben“. Nun suchen sie nach einem Weg, gemeinsam mit dem Musiker Otto Kollmann, Inges Verlobtem, der Deportation zu entgehen.
„Meine Mutter hatte einen Jugendfreund gehabt, der Monarchist war, überdies ein echter Graf, ein Herr von Benedek. […] Unser Graf hatte eine heiße Liebesgeschichte mit meiner Mutter gehabt, aber sie durften nicht heiraten, denn sie stammte aus einer reichen jüdischen Familie und er aus verarmtem Adel. Es wäre eine gute Ehe geworden, und ich hätte eine Gräfin sein können. [...]
Herr von Benedek bewies uns seine Liebe auf andere Weise. Er besaß ein Gut in St. Gallenkirch bei Schruns, an der österreichisch-schweizerischen Grenze. Dort kannte er die Familie Juen, die in Ferienzeiten Gäste aufnahm. Das Dorf lebte seit ewigen Zeiten vom Schmuggel: Kaffee, Zigaretten, und seit kurzem auch Menschen. Die Juens kannten die geheimen Wege, sie hatten ihre Kontakte zu den Grenzsoldaten. Graf Benedek kam, als meine Mutter rief, nach Wien. Er plante unsere Flucht mit Hilfe der Juens. […]
Am Morgen war es entschieden, dass wir nicht zur vorgesehenen Stunde einrückten. Nun waren wir gejagtes Wild. Wir dachten, dass wir die falschen Papiere in zwei bis drei Tagen hätten. Es wurden sechs Wochen daraus.
Ich hatte meine falschen Papiere von der Fabrik, Mama hatte sie von Benedek, das Problem waren Otto und mein Bruder. Außerdem waren die Juens noch nicht bereit, uns aufzunehmen, es war noch Hochsaison im Touristendorf, es gab also zu viele Beobachter dort. Es hieß vorerst durchhalten in Wien. Wir beschlossen, uns getrennt durchzuschlagen. Als Treffpunkt bestimmten wir einen Brückenbogen am Gürtel, jeden Tag einen weiter, jeden Tag eine halbe Stunde später. […] Wir gingen manchmal nur aneinander vorbei, flüsterten uns Informationen zu. Meine Aufgabe war es, täglich im 7. Bezirk an einer Straßenecke von einem Mitglied der Untergrundbewegung vier Schlafadressen zu hören, sie mir zu merken und an Mama und meinen Bruder weiterzusagen. […] Ich versuchte immer mit Otto zusammenzubleiben. […] Die Namen unserer Gastgeber wussten wir nie. Meist waren es sehr einfache Leute, Kommunisten oder Sozialdemokraten, aber auch andere, die sich, vor allem nach Stalingrad, eine weiße Weste erwerben wollten.“
Nach Wochen des Wartens im Untergrund sind für alle die falschen Papiere organisiert. Im Oktober reisen sie über München nach Vorarlberg, überstehen mehrere Kontrollen, und erreichen schließlich über Bregenz und Schruns die Familie Juen in St. Gallenkirch.
„Ich wollte um jeden Preis leben. Die Kuhglocken klangen, die Kirchenglocke rief die Herde heim. Man servierte uns längst vergessene Köstlichkeiten, frische Früchte, Fleisch, alles trieb mich dem Leben zu.
Wir sollten eine Woche bleiben, um uns zu kräftigen, aber in der dritten Nacht kam Herr Juen plötzlich herein und sagte, wir müssten sogleich fort, man hätte uns angezeigt. Wir sollten nur das Nötigste mitnehmen, wir hätten keine Träger, nur er und sein Bruder würden uns führen.
Unterwegs warf ich noch sehr viel weg, denn wir kletterten steile Pfade aufwärts und durften keine Geräusche machen. Es war Ende Oktober und sehr kalt. Ich rutschte in ein Loch. Juen warf mir ein Seil zu und zog mich hoch, danach konnte ich nicht mehr schnaufen, und so trug er mich ein Stück. Otto hatte rutschige Schuhe an, Mama musste ihn fast den ganzen Weg ziehen. Einige Stunden lang mussten wir in einer Mulde bewegungslos liegen bleiben, weil Soldaten vorbeizogen. Ich schmiegte mich an Otto. Obwohl wir so oft im selben Bett geschlafen hatten, war ich immer noch Jungfrau. Die gutbürgerlichen Vorurteile bestanden fort in allen Gefahren. Wir zitterten vor Angst, Kälte und Bedauern über ungelebte Liebesnächte. …
Bei Tagesanbruch zogen wir weiter, teils umgab uns schon Schnee. Man rutschte. Weiter, weiter, drängte Juen. Die Wachen sind bestochen, ihr müsst zu einer gewissen Zeit an ihnen vorbei schleichen. Mama hatte Juen ihren ganzen verbliebenen Schmuck gegeben für diese Flucht. Viele Frauen retteten den Schmuck, und die Kinder kamen um. Viele Schmuggler nahmen Gold und Geld, und zeigten dann die Verfolgten an. Bei unserer Rettung geschahen tausend Wunder.
Die Wachen zeigten nicht das erwartete Lichtsignal. Vielleicht waren sie ausgewechselt worden, vielleicht hatte uns jemand angezeigt. Wir hielten an einem Felsspalt, den man kaum sah. Die Juens drängten uns durch, sie flüsterten, nun könnten sie nicht weiter mit uns gehen, übergaben uns, was sie an Gepäck für uns getragen hatten, und sagten: Lauft, lauft, so rasch ihr könnt. Drüben ist die Schweiz. Und wir liefen.
Sie nahmen meiner Mutter den letzten Schmuck ab, aber sie brachten uns herüber. Mein Bruder hielt nach dem Krieg engen Kontakt mit den Juens, er war oft in Österreich bei ihnen, half ihnen in den schwierigen Jahren nach 1945. Ich war auf einer Reise nach Berlin dort, das halbe Dorf ist von Juens bewohnt.“
Auf Ingeborg Neufeld warten auch nach ihrer Flucht in die Schweiz schwierige Jahre.
Das Kriegsende erlebt sie nach zwei Jahren in einem Schweizer Arbeitslager schließlich in Lugano. Dort werden sie und ihr Verlobter vom amerikanischen Geheimdienst engagiert und Zeuge geheimer Verhandlungen mit dem deutschen SS-General Wolff über einen vorzeitigen Waffenstillstand in Oberitalien.
Ihr Leben hält da noch so manche amourösen und musikalischen Abenteuer für sie bereit, von denen sie in ihrer Autobiografie „Die Partisanenvilla“ genüsslich berichtet. Doch die schreibt sie schon unter ihrem späteren Namen Inge Ginsberg.
2021 stirbt sie in Zürich, nicht ohne es der Welt noch einmal gezeigt zu haben, wieviel Energie auch in einer 90jährigen stecken kann. In den 1950er Jahren hatte sie schon mit ihrem ersten Mann, Otto Kollmann, Songs für Schlagerinterpreten geschrieben. Nun tritt sie zwischen 2014 und 2016 gleich dreimal mit der Heavy Metal Band The Tritone Kings bei der Schweizer Vorentscheidung für den Eurovision Song Contest an. Unter anderem mit dem Lied „Totenköpfchen“.
[1] Inge Ginsberg, Die Partisanenvilla. Erinnerungen an Flucht, Geheimdienst und zahlreiche Schlager. München 2008, S. 65ff.