44 Familie Leopold
“Wir Bludenzer Bürger… ist das eine tolle Geschichte“. Die Familie Leopold taucht ab.
Bludenz, 16. September 1944
„Einfahrt in das Tal der Ill durch Tunnel. Berge von Bludenz tauchen auf. Links Hoher Fraßen, rechts Mondspitze, Schillerkopf usw. Bludenz. Heller Sonnenschein. Geben einen Teil des Handgepäcks auf, gehen zum Postamt. Werfen erste Ankunftsgrüße an Freunde ein. Anruf beim Landratsamt. Kühnl am Apparat. Zuweisung ins Hotel Arlberger Hof, Verabredung aufs Kommando Vorarlberg. Gute Aufnahme in freundliches Zimmer. Generalreinigung. Hole Handgepäck, Bahnhof. Mittagessen im Arlberger Hof. Erstes Nachmittagsschläfchen in Bludenz. Dann kleine Wanderung zu auserwähltem Aussichtspunkt. Annelie schreit. Abendbrot. Der schwere Nachtschlaf.”[1]
Niemand ahnt, dass Dr. Kurt Freiherr, der neue Finanzbeamte im Landratsamt Bludenz, der am 16. September 1944 mit seiner Familie in der Stadt eintrifft, in Wirklichkeit ein jüdischer Flüchtling ist.
Im Dezember 1943 war es Walter Leopold in Leipzig gelungen, einen Wehrpass auf den Namen Kurt Freiherr zu fälschen. Und sich Schritt für Schritt eine neue Biografie zu erfinden – als ausgebombter Wirtschaftsprüfer aus Mannheim, wo wie er wusste von der Stadt und ihren Ämtern nicht mehr viel übrig war.
Gemeinsam mit seiner Familie lebte Walter Leopold zu diesem Zeitpunkt schon mehr als ein Jahr lang im Untergrund, versteckt von nicht-jüdischen Freunden, oder auf der Straße. Im November 1938 war er wie tausende jüdischer Männer nach Buchenwald verschleppt worden, und als ausgezeichneter Weltkriegsteilnehmer wieder freigelassen worden – wohl gegen die ihm abgepresste Zusicherung, das Land zu verlassen. Er war geblieben und hatte weiter in der Verwaltung der Jüdischen Gemeinde gearbeitet.
Als er im September 1942 den Befehl erhält, sich mit seiner Frau Hilda und seiner fünfjährigen Tochter Anneliese zur Deportation am 19. September nach Theresienstadt, dem trügerischen „Vorzeigeghetto“ der Nazis einzufinden, tauchen die Leopolds ab.
Doch Walter Leopold, ein linker Sozialist und selbstbewusster Jude, besitzt nicht nur Überlebenswillen sondern auch Witz und Erfindungsreichtum. Er schickt Bewerbungen an deutsche Behörden.
Und im Mai 1944 bekommt er seine Chance. Das Landratsamt in Bludenz sucht einen versierten Finanzbeamten. Und wer, wenn nicht er, ist versiert genug dafür. Am 25. Mai reist er nach Bludenz, den Ort, den er von früheren Urlaubsreisen und Wandertouren kennt. Tatsächlich gelingt es ihm den Posten für sich zu gewinnen. Und dass, obwohl er freimütig bekennt, kein Parteimitglied zu sein. Er weiß genau, wieviel er dem fiktiven Dr. Freiherr andichten kann. Und welche Archive seine Nicht-Existenz trotz den Zerstörungen der Bombenangriffe noch immer preisgeben würden. So tritt er am 18. September seinen Dienst an. Am 27. notiert er:
„Man friert in den Amtszimmern und von den Bergen ist nichts mehr zu sehen. Schadet nichts, wir haben ja keine Kurtaxe zu entrichten wie bei unserem früheren Besuch, und schmeißen auch nicht unser Geld zum Fenster heraus. Denn wir wohnen hier, und nach dem Winter kommt wieder der Frühling. Wenn wir ihn erleben! Wir Bludenzer Bürger. Meine Fresse, ist das eine tolle Geschichte.”[2]
Nicht nur er und seine Frau Hilda müssen nun Komödie spielen. Auch die mittlerweile siebenjährige Tochter Anneliese, mit der sie Ausflüge auf die Tschengla und in die übrige Bergwelt unternehmen, muss nun ihre Rolle als Protestantin im katholischen Bludenz und in der Schule beherrschen.
„Meine Eltern haben mich nicht über alle Details aufgeklärt. Aber ich erinnere mich an unsere Reise nach Österreich, wenn die Beamten kamen und unsere Papiere sehen wollten. Ich wusste nicht, dass sie gefälscht waren. […] Ich war einfach ängstlich, weil er ein Beamter war, für mich war das ein Nazi. Und konnte es ja auch gewesen sein. […] So kamen wir schließlich nach Österreich und mein Vater sagte zu mir. Weißt Du, wir können noch nicht unsere Identität preisgeben, aber wir sind frei, soweit das möglich ist. Wir müssen nicht mehr Angst haben, dass ein Nazi kommt und dich erschießt, wir müssen uns nicht mehr in einem Zimmer verstecken.“[3]
Zunächst wird ihnen eine Wohnung in der Wichnerstraße über der Reifenhandlung Koch zugewiesen, dann können sie in die neu erbaute Südtirolersiedlung umziehen.
Und ich erinnere mich an Weihnachten, wir hatten einen Weihnachtsbaum, und wir waren nun Protestanten. Da kam man auch nicht gut damit weg, denn die Protestanten waren auch nicht so beliebt. Denn dort war man ja vor allem Katholisch. Und ich erinnere mich, dass ich eines Tages sehr gottlos war. Und wir aßen so eine Art, na ja nicht einen hot dog aber so etwas… und ich habe die Pelle an den Weihnachtsbaum gehängt. Und meine Mutter hat gesagt, ‚Mach das nicht‘ und ich hab gesagt, wir brauchen keinen Weihnachtsbaum‘.”
Bis zur Befreiung im Mai 1945 hält die Familie das Spiel durch. Nur mit Mühe gelingt es Walter Leopold die Franzosen von seiner wahren Identität zu überzeugen. Man weiß nicht so recht wie mit ihm umgehen. Seine Arbeit im Landratsamt verliert er. Obwohl er wohl gerne in Bludenz bleiben würde. Immerhin bekommt die Familie nun eine geräumige Wohnung, die einem hohen Nazifunktionär gehört hatte. Zu ihrer Überraschung finden sie dort eine imposante Menorah, mit der sie im Dezember zum ersten Mal wieder Chanukkah feiern.
Walter Leopold bekommt Besuch von Geistlichen, die versuchen, ihn davon zu überzeugen, Katholik zu werden. Vielleicht könnte er dann sogar Bürgermeister werden. Doch ein Übertritt kommt für ihn nicht in Frage. Annelieses Noten in der Schule werden schlechter. Ihre Mitschüler werfen ihr vor, sie, die Juden, hätten Jesus getötet. Sie gehörten nicht hierher.
„Die traumatischen Erfahrungen, die ich drüben gemacht habe, Ich glaube nicht, dass ich jemals darüber hinweggekommen bin. Es war hart für mich, aber ich denke, über die Bomben und all das bin ich hinweggekommen, als wir in Österreich gewesen sind. […] Österreich war wirklich, wenn ich etwas über meine Kindheit sagen könnte, wenn ich irgendwelche schönen Kindheitserinnerungen haben, dann wären es die an Österreich. Auch wenn der letzte Teil davon nicht gut war.”
1950 emigriert die Familie in die USA und lässt sich in Cincinnati nieder. Leopold wartet auf eine Anstellung an der Universität – und arbeitet als Nachtwächter in einem Schlachthaus, dann in einer Textilfabrik. 1952 stirbt er an einem Herzinfarkt.
“Ich habe mir seinen Tod immer so ausgemalt, wie Moses, der das Volk ins gelobte Land führte, aber es selbst nicht mehr genießen konnte. Er starb, er überlebte den ganzen Krieg und alle Härten, aber sobald wir in Sicherheit waren, starb er.“
[1] Tagebuch von Walter Leopold. In englischer Übersetzung erschienen: Walter Leopold (with Les Leopold), Defiant German. Defiant Jew. A Holocaust Memoir From Inside the Third Reich. Amsterdam 2020, dort auf S. 193.
[2] Ebd., S. 210.
[3] Interview mit Anneliese Yosafat (geb. Leopold) durch Joanne Centa, 18.12.1995, USC Shoah Foundation.
44 Familie Leopold
“Wir Bludenzer Bürger… ist das eine tolle Geschichte“. Die Familie Leopold taucht ab.
Bludenz, 16. September 1944
„Einfahrt in das Tal der Ill durch Tunnel. Berge von Bludenz tauchen auf. Links Hoher Fraßen, rechts Mondspitze, Schillerkopf usw. Bludenz. Heller Sonnenschein. Geben einen Teil des Handgepäcks auf, gehen zum Postamt. Werfen erste Ankunftsgrüße an Freunde ein. Anruf beim Landratsamt. Kühnl am Apparat. Zuweisung ins Hotel Arlberger Hof, Verabredung aufs Kommando Vorarlberg. Gute Aufnahme in freundliches Zimmer. Generalreinigung. Hole Handgepäck, Bahnhof. Mittagessen im Arlberger Hof. Erstes Nachmittagsschläfchen in Bludenz. Dann kleine Wanderung zu auserwähltem Aussichtspunkt. Annelie schreit. Abendbrot. Der schwere Nachtschlaf.”[1]
Niemand ahnt, dass Dr. Kurt Freiherr, der neue Finanzbeamte im Landratsamt Bludenz, der am 16. September 1944 mit seiner Familie in der Stadt eintrifft, in Wirklichkeit ein jüdischer Flüchtling ist.
Im Dezember 1943 war es Walter Leopold in Leipzig gelungen, einen Wehrpass auf den Namen Kurt Freiherr zu fälschen. Und sich Schritt für Schritt eine neue Biografie zu erfinden – als ausgebombter Wirtschaftsprüfer aus Mannheim, wo wie er wusste von der Stadt und ihren Ämtern nicht mehr viel übrig war.
Gemeinsam mit seiner Familie lebte Walter Leopold zu diesem Zeitpunkt schon mehr als ein Jahr lang im Untergrund, versteckt von nicht-jüdischen Freunden, oder auf der Straße. Im November 1938 war er wie tausende jüdischer Männer nach Buchenwald verschleppt worden, und als ausgezeichneter Weltkriegsteilnehmer wieder freigelassen worden – wohl gegen die ihm abgepresste Zusicherung, das Land zu verlassen. Er war geblieben und hatte weiter in der Verwaltung der Jüdischen Gemeinde gearbeitet.
Als er im September 1942 den Befehl erhält, sich mit seiner Frau Hilda und seiner fünfjährigen Tochter Anneliese zur Deportation am 19. September nach Theresienstadt, dem trügerischen „Vorzeigeghetto“ der Nazis einzufinden, tauchen die Leopolds ab.
Doch Walter Leopold, ein linker Sozialist und selbstbewusster Jude, besitzt nicht nur Überlebenswillen sondern auch Witz und Erfindungsreichtum. Er schickt Bewerbungen an deutsche Behörden.
Und im Mai 1944 bekommt er seine Chance. Das Landratsamt in Bludenz sucht einen versierten Finanzbeamten. Und wer, wenn nicht er, ist versiert genug dafür. Am 25. Mai reist er nach Bludenz, den Ort, den er von früheren Urlaubsreisen und Wandertouren kennt. Tatsächlich gelingt es ihm den Posten für sich zu gewinnen. Und dass, obwohl er freimütig bekennt, kein Parteimitglied zu sein. Er weiß genau, wieviel er dem fiktiven Dr. Freiherr andichten kann. Und welche Archive seine Nicht-Existenz trotz den Zerstörungen der Bombenangriffe noch immer preisgeben würden. So tritt er am 18. September seinen Dienst an. Am 27. notiert er:
„Man friert in den Amtszimmern und von den Bergen ist nichts mehr zu sehen. Schadet nichts, wir haben ja keine Kurtaxe zu entrichten wie bei unserem früheren Besuch, und schmeißen auch nicht unser Geld zum Fenster heraus. Denn wir wohnen hier, und nach dem Winter kommt wieder der Frühling. Wenn wir ihn erleben! Wir Bludenzer Bürger. Meine Fresse, ist das eine tolle Geschichte.”[2]
Nicht nur er und seine Frau Hilda müssen nun Komödie spielen. Auch die mittlerweile siebenjährige Tochter Anneliese, mit der sie Ausflüge auf die Tschengla und in die übrige Bergwelt unternehmen, muss nun ihre Rolle als Protestantin im katholischen Bludenz und in der Schule beherrschen.
„Meine Eltern haben mich nicht über alle Details aufgeklärt. Aber ich erinnere mich an unsere Reise nach Österreich, wenn die Beamten kamen und unsere Papiere sehen wollten. Ich wusste nicht, dass sie gefälscht waren. […] Ich war einfach ängstlich, weil er ein Beamter war, für mich war das ein Nazi. Und konnte es ja auch gewesen sein. […] So kamen wir schließlich nach Österreich und mein Vater sagte zu mir. Weißt Du, wir können noch nicht unsere Identität preisgeben, aber wir sind frei, soweit das möglich ist. Wir müssen nicht mehr Angst haben, dass ein Nazi kommt und dich erschießt, wir müssen uns nicht mehr in einem Zimmer verstecken.“[3]
Zunächst wird ihnen eine Wohnung in der Wichnerstraße über der Reifenhandlung Koch zugewiesen, dann können sie in die neu erbaute Südtirolersiedlung umziehen.
Und ich erinnere mich an Weihnachten, wir hatten einen Weihnachtsbaum, und wir waren nun Protestanten. Da kam man auch nicht gut damit weg, denn die Protestanten waren auch nicht so beliebt. Denn dort war man ja vor allem Katholisch. Und ich erinnere mich, dass ich eines Tages sehr gottlos war. Und wir aßen so eine Art, na ja nicht einen hot dog aber so etwas… und ich habe die Pelle an den Weihnachtsbaum gehängt. Und meine Mutter hat gesagt, ‚Mach das nicht‘ und ich hab gesagt, wir brauchen keinen Weihnachtsbaum‘.”
Bis zur Befreiung im Mai 1945 hält die Familie das Spiel durch. Nur mit Mühe gelingt es Walter Leopold die Franzosen von seiner wahren Identität zu überzeugen. Man weiß nicht so recht wie mit ihm umgehen. Seine Arbeit im Landratsamt verliert er. Obwohl er wohl gerne in Bludenz bleiben würde. Immerhin bekommt die Familie nun eine geräumige Wohnung, die einem hohen Nazifunktionär gehört hatte. Zu ihrer Überraschung finden sie dort eine imposante Menorah, mit der sie im Dezember zum ersten Mal wieder Chanukkah feiern.
Walter Leopold bekommt Besuch von Geistlichen, die versuchen, ihn davon zu überzeugen, Katholik zu werden. Vielleicht könnte er dann sogar Bürgermeister werden. Doch ein Übertritt kommt für ihn nicht in Frage. Annelieses Noten in der Schule werden schlechter. Ihre Mitschüler werfen ihr vor, sie, die Juden, hätten Jesus getötet. Sie gehörten nicht hierher.
„Die traumatischen Erfahrungen, die ich drüben gemacht habe, Ich glaube nicht, dass ich jemals darüber hinweggekommen bin. Es war hart für mich, aber ich denke, über die Bomben und all das bin ich hinweggekommen, als wir in Österreich gewesen sind. […] Österreich war wirklich, wenn ich etwas über meine Kindheit sagen könnte, wenn ich irgendwelche schönen Kindheitserinnerungen haben, dann wären es die an Österreich. Auch wenn der letzte Teil davon nicht gut war.”
1950 emigriert die Familie in die USA und lässt sich in Cincinnati nieder. Leopold wartet auf eine Anstellung an der Universität – und arbeitet als Nachtwächter in einem Schlachthaus, dann in einer Textilfabrik. 1952 stirbt er an einem Herzinfarkt.
“Ich habe mir seinen Tod immer so ausgemalt, wie Moses, der das Volk ins gelobte Land führte, aber es selbst nicht mehr genießen konnte. Er starb, er überlebte den ganzen Krieg und alle Härten, aber sobald wir in Sicherheit waren, starb er.“
[1] Tagebuch von Walter Leopold. In englischer Übersetzung erschienen: Walter Leopold (with Les Leopold), Defiant German. Defiant Jew. A Holocaust Memoir From Inside the Third Reich. Amsterdam 2020, dort auf S. 193.
[2] Ebd., S. 210.
[3] Interview mit Anneliese Yosafat (geb. Leopold) durch Joanne Centa, 18.12.1995, USC Shoah Foundation.