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    Am Lünersee, 2021
    Dietmar Walser, Hohenems

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    Ansicht des Lünersees mit Zustieg "Böser Tritt", 1943
    Sammlung Risch-Lau, Vorarlberger Landesbibliothek

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    Lünersee mit Douglas-Hütte, vor 1940
    Postkarten-Verlag Hegenbart Bludenz, Vorarlberger Landesbibliothek

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    Schweizer Tor und Kirchlispitzen, vor 1950
    Silvretta-Verlag Otto Steiner Schruns, Vorarlberger Landesbibliothek



43    Franz Weinreb> 1. Oktober 1938


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43 Franz Weinreb

Murmeltiere am Schweizer Tor. Franz Weinreb geht über die Berge
Brand, 1. Oktober 1938

 „Im Hotel in Brand fragte niemand nach Dokumenten, im Gastzimmer saßen vier Bauern beim Tarock, das Radio plärrte ein paar Nazimärsche, dann kam die Mitteilung, dass der Verrat an der Tschechoslowakei in München von Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier unterzeichnet worden war. […] Der Gedanke, dass sich nun mein Schicksal, aber auch das Europas entscheiden werde, bedrückte mich.“

Franz Weinreb, der sein Schicksal mit dem Europas verbindet, wird 1893 in Wien als Sohn der Reformpädagogin Hermine Weinreb geboren. Als sozialistischer Politiker gehört er in den letzten Jahren der ersten Republik zum Führungskreis des Republikanischen Schutzbundes. 1934 zieht er sich im Wien des faschistischen Ständestaates aus der Öffentlichkeit zurück. Doch 1938 bleibt nur noch die Flucht, im September macht er sich auf den Weg. Mit dem Zug kommt er bis Bludenz. Bergtouren im Brandnertal, zwei Jahrzehnte zuvor, sind ihm in Erinnerung geblieben. Dort will er versuchen, in die Schweiz zu gelangen.


 

 

 

 

 

Hermine und Franz Weinreb, 1894
Quelle: Das rote Wien. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie. http://www.dasrotewien.at/seite/weinreb-hermine

„Um 2 Uhr morgens machte ich mich bereit. Die Goiserer und den Pickel vorsichtig in der Hand, schlich ich auf Socken zum Tor. […] Beim ersten Morgengrauen begann ich den steilen Aufstieg zum Lünersee. […] Als ich den Lünersee erreichte, wärmten mir die ersten Sonnenstrahlen den Rücken. Spiegelglatt lag er da, am fernen Ufer die vertraute Douglashütte. Ihre Tür war weit offen und als ich näher kam, sah ich einen jungen Burschen Geschirr wegpacken. Mit ‚Grüß Gott‘ und Herzklopfen trat ich ein, das übliche ‚Heil Hitler‘ befürchtend. Aber zu meiner Freude kam es zurück ‚Grüß Gott. Ah, Sie san aber fruah da.‘ […] Ich schrieb eine Ansichtskarte an meine Frau – nur ihren Vornamen auf die Adresse – und verließ mit einem herzlichen ‚Vergelts Gott‘, denn er wollte keine Bezahlung nehmen, den freundlichen Gastwirt. Dann wanderte ich längs der Grenze dem Schweizer Tor zu […].

Schon von weitem sah ich im Tor einen Bunker mit Schießscharten in allen Wänden. Wieder begann mein Herz heftig zu klopfen. Ich näherte mich vorsichtig, jeden Augenblick darauf gefasst auf das ‚Halt! Stehenbleiben! Sonst wird geschossen!‘ Aber nichts rührte sich. Umherblickend sah ich ein paar Meter weiter den Schweizer Grenzstein und daneben eine Tafel. ‚Durchgang ist hier strengstens verboten‘. Da das das einzige Hindernis auf meinem Weg in die Freiheit zu sein schien, wollte ich eben daran vorbei eilen, als hinter mir plötzlich ein gellender Pfiff ertönte. Blitzartig ließ ich mich hinter einen Felsblock fallen, das Erscheinen eines Grenzsoldaten erwartend. Da pfiff es plötzlich rechts ganz nah und schon wieder links. Schon befürchtete ich aus Erregung Halluzinationen zu haben, da sah ich ein Murmeltier seinen Kopf aus einem Erdloch stecken und sein Völkchen vor der Anwesenheit des Fremden zu warnen. In ein heftiges Gelächter ausbrechend, sprang ich auf und war nach ein paar Schritten auf Schweizer Boden.“[1]

Weinreb wird bald von einem Bauern aufgehalten und am Polizeiposten von Schiers abgeliefert. Der Polizist des dortigen Postens schickt ihn nach Chur – doch von dort wird Weinreb vom Hauptmann des Kantonalen Justiz- und Polizeidepartements fast wieder ins Deutsche Reich abgeschoben.
Seine Fahrkarte nach Paris und ein Anruf bei einem Bekannten in Solothurn, der für Weinreb bürgt, überzeugt schließlich den Beamten. Weinreb wird der Aufenthalt in Solothurn bis zur Weiterreise nach Frankreich gestattet. Mit seiner Familie will er nach Australien emigrieren. In Europa gibt es keinen sicheren Hafen mehr für ihn.

Aus Wien treffen am 10. November gemischte Nachrichten ein. Seine Frau berichtet ihm am Telefon, das Einreisepermit aus Canberra sei tatsächlich eingetroffen. Und es seien am letzten Abend unvermutet „Freunde“ gekommen, die ihn zu einem „Ausflug“ in die Gegend von München eingeladen hätten. Weinreb weiß, was das bedeutet: Seiner Verhaftung und Deportation nach Dachau ist er entgangen. Am Neujahrstag erreicht er schließlich Paris, und holt bald darauf seine Familie nach.

Am 21. Februar besteigen sie in Rotterdam den Frachter „Meerkerk“, der sie nach Australien bringen soll. Viele Jahre später, 1978, schreibt Franz Weinreb seine Lebenserinnerungen nieder, unter seinem neuen Namen Frank Vanry. 1983 erscheinen sie in Wien unter dem Titel „Der Zaungast“.


[1] Frank Vanry (Franz Weinreb), Der Zaungast. Lebenserinnerungen (= Materialien zur Arbeiterbewegung 27). Wien 1983, S. 233-235.

 

43 Franz Weinreb

Murmeltiere am Schweizer Tor. Franz Weinreb geht über die Berge
Brand, 1. Oktober 1938

 „Im Hotel in Brand fragte niemand nach Dokumenten, im Gastzimmer saßen vier Bauern beim Tarock, das Radio plärrte ein paar Nazimärsche, dann kam die Mitteilung, dass der Verrat an der Tschechoslowakei in München von Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier unterzeichnet worden war. […] Der Gedanke, dass sich nun mein Schicksal, aber auch das Europas entscheiden werde, bedrückte mich.“

Franz Weinreb, der sein Schicksal mit dem Europas verbindet, wird 1893 in Wien als Sohn der Reformpädagogin Hermine Weinreb geboren. Als sozialistischer Politiker gehört er in den letzten Jahren der ersten Republik zum Führungskreis des Republikanischen Schutzbundes. 1934 zieht er sich im Wien des faschistischen Ständestaates aus der Öffentlichkeit zurück. Doch 1938 bleibt nur noch die Flucht, im September macht er sich auf den Weg. Mit dem Zug kommt er bis Bludenz. Bergtouren im Brandnertal, zwei Jahrzehnte zuvor, sind ihm in Erinnerung geblieben. Dort will er versuchen, in die Schweiz zu gelangen.


 

 

 

 

 

Hermine und Franz Weinreb, 1894
Quelle: Das rote Wien. Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie. http://www.dasrotewien.at/seite/weinreb-hermine

„Um 2 Uhr morgens machte ich mich bereit. Die Goiserer und den Pickel vorsichtig in der Hand, schlich ich auf Socken zum Tor. […] Beim ersten Morgengrauen begann ich den steilen Aufstieg zum Lünersee. […] Als ich den Lünersee erreichte, wärmten mir die ersten Sonnenstrahlen den Rücken. Spiegelglatt lag er da, am fernen Ufer die vertraute Douglashütte. Ihre Tür war weit offen und als ich näher kam, sah ich einen jungen Burschen Geschirr wegpacken. Mit ‚Grüß Gott‘ und Herzklopfen trat ich ein, das übliche ‚Heil Hitler‘ befürchtend. Aber zu meiner Freude kam es zurück ‚Grüß Gott. Ah, Sie san aber fruah da.‘ […] Ich schrieb eine Ansichtskarte an meine Frau – nur ihren Vornamen auf die Adresse – und verließ mit einem herzlichen ‚Vergelts Gott‘, denn er wollte keine Bezahlung nehmen, den freundlichen Gastwirt. Dann wanderte ich längs der Grenze dem Schweizer Tor zu […].

Schon von weitem sah ich im Tor einen Bunker mit Schießscharten in allen Wänden. Wieder begann mein Herz heftig zu klopfen. Ich näherte mich vorsichtig, jeden Augenblick darauf gefasst auf das ‚Halt! Stehenbleiben! Sonst wird geschossen!‘ Aber nichts rührte sich. Umherblickend sah ich ein paar Meter weiter den Schweizer Grenzstein und daneben eine Tafel. ‚Durchgang ist hier strengstens verboten‘. Da das das einzige Hindernis auf meinem Weg in die Freiheit zu sein schien, wollte ich eben daran vorbei eilen, als hinter mir plötzlich ein gellender Pfiff ertönte. Blitzartig ließ ich mich hinter einen Felsblock fallen, das Erscheinen eines Grenzsoldaten erwartend. Da pfiff es plötzlich rechts ganz nah und schon wieder links. Schon befürchtete ich aus Erregung Halluzinationen zu haben, da sah ich ein Murmeltier seinen Kopf aus einem Erdloch stecken und sein Völkchen vor der Anwesenheit des Fremden zu warnen. In ein heftiges Gelächter ausbrechend, sprang ich auf und war nach ein paar Schritten auf Schweizer Boden.“[1]

Weinreb wird bald von einem Bauern aufgehalten und am Polizeiposten von Schiers abgeliefert. Der Polizist des dortigen Postens schickt ihn nach Chur – doch von dort wird Weinreb vom Hauptmann des Kantonalen Justiz- und Polizeidepartements fast wieder ins Deutsche Reich abgeschoben.
Seine Fahrkarte nach Paris und ein Anruf bei einem Bekannten in Solothurn, der für Weinreb bürgt, überzeugt schließlich den Beamten. Weinreb wird der Aufenthalt in Solothurn bis zur Weiterreise nach Frankreich gestattet. Mit seiner Familie will er nach Australien emigrieren. In Europa gibt es keinen sicheren Hafen mehr für ihn.

Aus Wien treffen am 10. November gemischte Nachrichten ein. Seine Frau berichtet ihm am Telefon, das Einreisepermit aus Canberra sei tatsächlich eingetroffen. Und es seien am letzten Abend unvermutet „Freunde“ gekommen, die ihn zu einem „Ausflug“ in die Gegend von München eingeladen hätten. Weinreb weiß, was das bedeutet: Seiner Verhaftung und Deportation nach Dachau ist er entgangen. Am Neujahrstag erreicht er schließlich Paris, und holt bald darauf seine Familie nach.

Am 21. Februar besteigen sie in Rotterdam den Frachter „Meerkerk“, der sie nach Australien bringen soll. Viele Jahre später, 1978, schreibt Franz Weinreb seine Lebenserinnerungen nieder, unter seinem neuen Namen Frank Vanry. 1983 erscheinen sie in Wien unter dem Titel „Der Zaungast“.


[1] Frank Vanry (Franz Weinreb), Der Zaungast. Lebenserinnerungen (= Materialien zur Arbeiterbewegung 27). Wien 1983, S. 233-235.

 

Kurzbiografien der genannten Personen

Franz Weinreb (Frank Vanry) geboren 20.5.1893 in Wien, gestorben 6.1.1993 in Australien. Zählte als sozialistischer Politiker zum Führungskreis des Republikanischen Schutzbundes. Anfang Oktober 1938 floh er über den Lünersee in die Schweiz und weiter nach Paris. Von dort emigrierte er mit seiner Frau und seinen Kindern nach Australien, wo er sich weiterhin politisch engagierte, zum Beispiel für die Metallarbeitergewerkschaft aber auch für den Schutz der Upper Blue Mountains, in denen er sich später niederließ. 1978 schrieb er seine Lebenserinnerungen nieder, die 1983 auf Deutsch erschienen.