40 Vierzehn Juden aus der Slowakei
Eine klemmende Schiebetür verrät sie: vierzehn jüdische Flüchtlinge aus der Slowakei werden aus einem Kohlenzug gezerrt
Feldkirch, 7. Januar 1943
Ein Güterzug mit Braunkohle wird vom Zoll für den Grenzübergang in die Schweiz abgefertigt. Hauptzollassistent Reithmeyer notiert in der Chronik des Hauptzollamtes Feldkirch:
„Beim Versuch den Wagen SZ 17068 zu öffnen, werden die Beamten stutzig. Die Schiebetüre klemmt. Erst durch ein unter ihr angesetztes Hebeeisen kann sie ausgehoben und geöffnet werden.“[1]
Der Wagen ist zu voll beladen, das weckt Verdacht. Die Beamten beginnen damit, den Wagen auszuräumen. Da springt aus einer Lüftungsklappe ein Mensch. Er wird vom Zollsekretär gefasst.
„Unterdessen graben sich die übrigen Beamten gegen die Stirnwand des Wagens vor und entdecken dort ein Loch, das fast bis auf den Boden des Wagens reicht. In diesem finden sie vier Flüchtlinge. Durch Entfernen weiterer Kohle schaffen sie einen Ausgang, dann fordern sie die Gefundenen auf, den Wagen zu verlassen. Diese Sträuben sich jedoch, werden aber bald mit vorgehaltener Pistole zum Herauskriechen gezwungen. Die Flüchtlinge sind vor Kohlenstaub ganz schwarz im Gesicht und dreckig, scheinen aber in guter körperlicher Verfassung zu sein.
Weiter schreibt Reithmeyer in seinem Bericht: „Inzwischen haben sich die Flüchtlinge, von denen sich herausstellt, dass sie alle Juden sind, nach anfänglich großer Niedergeschlagenheit in ihr Geschick ergeben. Sie sehen abenteuerlich genug aus. Die Gesichter haben sie zum Schutz gegen Frost und Kälte mit Schals verbunden, sodass nur die Augen und die – schmutzige – Nase herausschauen. Sie tragen viele Kleider am Leib; 5-6 Hosen und 3-4 Pullover. Auf die Frage, ob noch weitere Männer in den Wagen versteckt sind, verneinen sie und versichern: nur wir fünf. Die Beamten verlassen sich auf diese Aussage natürlich nicht und durchsuchen auch die übrigen Wagen. Dabei entdecken sie in einem von ihnen weitere fünf Männer und in einem anderen noch drei Männer und ein 17jähriges Mädel. Alles Juden. ... Das Mädel fragt mit erhobenen Händen voller Angst: ‚Was geschieht mit uns?’ Auf die Frage, warum er geflüchtet sei, erklärt ein Jude: ‚Weil ich wollte Leben retten.’ Bei der näheren Vernehmung erklären die Juden, dass sie am 30. Dezember 1942 in der Slowakei in die Wagen eingestiegen sind, um sich dem Abtransport in ein Arbeitslager zu entziehen.“
Bis zu diesem Zeitpunkt sind schon 58.000 Juden aus der Slowakei nach Auschwitz und nach Majdanek deportiert worden. Die meisten von ihnen sind ermordet.
Doch nicht alle Flüchtlinge im Kohlenzug auf dem Feldkircher Bahnhof stammen aus der Slowakei.
Auch im polnischen Bukowsko, nur wenige Kilometer nördlich der Grenze, hat es sich im Herbst 1942 herumgesprochen, dass es in Medzilaborce, einer slowakischen Kleinstadt in den Beskiden, eine Fluchthilfeorganisation gibt. In den mit Braunkohle beladenen Güterzügen, die von dort in Richtung Schweiz abgefertigt werden, werden kleine Gruppen versteckt. Mehrere von ihnen erreichen bis zum 31. Dezember tatsächlich die Schweiz.
Unter den Menschen aus Bukowsko und anderen polnischen Orten der Umgebung, die sich auf diesem Wege retten wollen, sind auch die Geschwister Balbirer. Im September 1942 ist die Familie in das naheliegende Arbeitslager Zaslaw bei Sanok verschleppt worden. Von dort werden die Eltern David und Rosa in ein Vernichtungslager deportiert. Feige, die älteste Tochter, hat sich indes mit einer Gruppe in den Wäldern bei Bukowsko versteckt.
In ihren Heimatort gelingt es auch den drei anderen Geschwistern noch einmal für einige Tage aus dem Lager zurückzukehren, kurz vor dem Feiertag Yom Kippur. Basia, Gittel und Mendel – sie sind 15, 17 und 20 Jahre alt. An Yom Kippur fasten und beten sie nicht, so erinnert sich Basia später einmal. „Wir sagten, es gäbe keinen Gott. Alles ist eine Lüge.“[2]
Feige besucht sie in diesen Tagen noch einmal, auf der Suche nach etwas zu Essen, dann wird sie von der SS gefasst und erschossen.
Mit der Hilfe Hersch Greibers, eines Bekannten aus Bukowsko, der schon Erfahrung mit Schmuggel gesammelt hat, gelingt es den drei Geschwistern noch einmal aus dem Lager Zaslaw zu fliehen. Rechtzeitig bevor von dort die Übriggebliebenen ins Vernichtungslager Belzec deportiert werden. Ende November oder Anfang Dezember erreichen sie Medzilaborce. Sie sind nicht die einzigen polnischen Juden hier, die sich nun als slowakische Juden ausgeben, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen, für den Fall, dass sie gefasst werden.
Nicht alle können zusammen losfahren. Die Plätze sind rar und begehrt. Gittel fährt schon am 30. Dezember, ihre Geschwister bekommen zwei Wochen später einen Platz im Bunker unter der Kohle zugewiesen. Zu diesem Zeitpunkt weiß noch niemand in Medzilaborce, dass Gittels Zug am 7. Januar 1943 in Feldkirch aufgeflogen ist.
Gittel Balbirer, das siebzehnjährige „Mädel“ in Reithmeyers Bericht, wird einige Tage im Feldkircher Gefängnis inhaftiert. Im Eingangsprotokoll des Gefangenenbuchs erscheint sie unter dem falschen Namen, den sie sich für die Flucht zugelegt hat: Sara Schönfeld.[3]
Am 15. Januar, noch bevor ihre Geschwister in Feldkirch ebenfalls verhaftet werden, wird Gittel Balbirer nach Wien weiter transportiert. Von dort wird sie schließlich zusammen mit etwa 30 anderen slowakischen und polnischen Juden am 3. März mit dem Transport 47a nach Auschwitz deportiert. Dort verliert sich ihre Spur.
Ihre Geschwister Mendel und Basia werden zunächst ins Gefangenenhaus in Bregenz überstellt. Von dort ins KZ Reichenau bei Innsbruck. Auch sie kommen im Mai 1943 in Auschwitz an.
Basia und Mendel erleben 1945 die Befreiung. Nach drei Jahren als Displaced Persons in Österreich emigrieren sie 1948 nach Montevideo in Uruguay. Mit dem Schiff Partizanka.
Ihre Schwester Gittel haben sie nicht wieder gesehen, weder in Auschwitz noch danach.[4]
Leseempfehlung:
Rahel Gort, Versteckt unter Kohle. Die riskante Flucht von Juden aus der Slowakei in die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Magisterarbeit. Pädagogische Hochschule St. Gallen, 2017: https://www.phsg.ch/sites/default/files/cms/Dienstleistung/Fachstellen-und-Kompetenzzentren/Demokratiebildung%20und%20Menschenrechte/Masterarbeiten/Masterarbeit_Rahel%20Gort_definitive%20Version_25.8.17.pdf
(Abgerufen 13.7.2022)
Karl Heinz Burmeister, Geschichte der Juden in Stadt und Herrschaft Feldkirch. Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 31. Feldkirch 1993, S. 178-181.
[1] Chronik des Hauptzollamt Feldkirch, 7.1.1943, Stadtarchiv Feldkirch
[2] Basia (Basha) Balbirer, Interview in Petah Tikva, 8.6.2010, Archiv Yad Vashem. Auch die weiteren Informationen zu der Geschichte der Familie stammen aus diesem Interview.
[2] Justizanstalt Feldkirch, Vormerkbuch 1942-1943; VLA, Feldkirch
[2] Bis zu ihrem Lebensende (Mendel starb 2015 und Basia 2021) haben die beiden das Schicksal ihrer Schwester aufzuklären versucht. Aber erst eine E-Mail von Mendels Tochter aus Kanada an die Israelitische Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg im Jahr 2022 brachte die Recherchen in Gang, die es möglich machten, den Weg Gittels von Feldkirch nach Auschwitz zu rekonstruieren. Wann sie dort ums Leben kam, oder ob sie von Auschwitz noch weiter deportiert wurde, ist ungewiss.
40 Vierzehn Juden aus der Slowakei
Eine klemmende Schiebetür verrät sie: vierzehn jüdische Flüchtlinge aus der Slowakei werden aus einem Kohlenzug gezerrt
Feldkirch, 7. Januar 1943
Ein Güterzug mit Braunkohle wird vom Zoll für den Grenzübergang in die Schweiz abgefertigt. Hauptzollassistent Reithmeyer notiert in der Chronik des Hauptzollamtes Feldkirch:
„Beim Versuch den Wagen SZ 17068 zu öffnen, werden die Beamten stutzig. Die Schiebetüre klemmt. Erst durch ein unter ihr angesetztes Hebeeisen kann sie ausgehoben und geöffnet werden.“[1]
Der Wagen ist zu voll beladen, das weckt Verdacht. Die Beamten beginnen damit, den Wagen auszuräumen. Da springt aus einer Lüftungsklappe ein Mensch. Er wird vom Zollsekretär gefasst.
„Unterdessen graben sich die übrigen Beamten gegen die Stirnwand des Wagens vor und entdecken dort ein Loch, das fast bis auf den Boden des Wagens reicht. In diesem finden sie vier Flüchtlinge. Durch Entfernen weiterer Kohle schaffen sie einen Ausgang, dann fordern sie die Gefundenen auf, den Wagen zu verlassen. Diese Sträuben sich jedoch, werden aber bald mit vorgehaltener Pistole zum Herauskriechen gezwungen. Die Flüchtlinge sind vor Kohlenstaub ganz schwarz im Gesicht und dreckig, scheinen aber in guter körperlicher Verfassung zu sein.
Weiter schreibt Reithmeyer in seinem Bericht: „Inzwischen haben sich die Flüchtlinge, von denen sich herausstellt, dass sie alle Juden sind, nach anfänglich großer Niedergeschlagenheit in ihr Geschick ergeben. Sie sehen abenteuerlich genug aus. Die Gesichter haben sie zum Schutz gegen Frost und Kälte mit Schals verbunden, sodass nur die Augen und die – schmutzige – Nase herausschauen. Sie tragen viele Kleider am Leib; 5-6 Hosen und 3-4 Pullover. Auf die Frage, ob noch weitere Männer in den Wagen versteckt sind, verneinen sie und versichern: nur wir fünf. Die Beamten verlassen sich auf diese Aussage natürlich nicht und durchsuchen auch die übrigen Wagen. Dabei entdecken sie in einem von ihnen weitere fünf Männer und in einem anderen noch drei Männer und ein 17jähriges Mädel. Alles Juden. ... Das Mädel fragt mit erhobenen Händen voller Angst: ‚Was geschieht mit uns?’ Auf die Frage, warum er geflüchtet sei, erklärt ein Jude: ‚Weil ich wollte Leben retten.’ Bei der näheren Vernehmung erklären die Juden, dass sie am 30. Dezember 1942 in der Slowakei in die Wagen eingestiegen sind, um sich dem Abtransport in ein Arbeitslager zu entziehen.“
Bis zu diesem Zeitpunkt sind schon 58.000 Juden aus der Slowakei nach Auschwitz und nach Majdanek deportiert worden. Die meisten von ihnen sind ermordet.
Doch nicht alle Flüchtlinge im Kohlenzug auf dem Feldkircher Bahnhof stammen aus der Slowakei.
Auch im polnischen Bukowsko, nur wenige Kilometer nördlich der Grenze, hat es sich im Herbst 1942 herumgesprochen, dass es in Medzilaborce, einer slowakischen Kleinstadt in den Beskiden, eine Fluchthilfeorganisation gibt. In den mit Braunkohle beladenen Güterzügen, die von dort in Richtung Schweiz abgefertigt werden, werden kleine Gruppen versteckt. Mehrere von ihnen erreichen bis zum 31. Dezember tatsächlich die Schweiz.
Unter den Menschen aus Bukowsko und anderen polnischen Orten der Umgebung, die sich auf diesem Wege retten wollen, sind auch die Geschwister Balbirer. Im September 1942 ist die Familie in das naheliegende Arbeitslager Zaslaw bei Sanok verschleppt worden. Von dort werden die Eltern David und Rosa in ein Vernichtungslager deportiert. Feige, die älteste Tochter, hat sich indes mit einer Gruppe in den Wäldern bei Bukowsko versteckt.
In ihren Heimatort gelingt es auch den drei anderen Geschwistern noch einmal für einige Tage aus dem Lager zurückzukehren, kurz vor dem Feiertag Yom Kippur. Basia, Gittel und Mendel – sie sind 15, 17 und 20 Jahre alt. An Yom Kippur fasten und beten sie nicht, so erinnert sich Basia später einmal. „Wir sagten, es gäbe keinen Gott. Alles ist eine Lüge.“[2]
Feige besucht sie in diesen Tagen noch einmal, auf der Suche nach etwas zu Essen, dann wird sie von der SS gefasst und erschossen.
Mit der Hilfe Hersch Greibers, eines Bekannten aus Bukowsko, der schon Erfahrung mit Schmuggel gesammelt hat, gelingt es den drei Geschwistern noch einmal aus dem Lager Zaslaw zu fliehen. Rechtzeitig bevor von dort die Übriggebliebenen ins Vernichtungslager Belzec deportiert werden. Ende November oder Anfang Dezember erreichen sie Medzilaborce. Sie sind nicht die einzigen polnischen Juden hier, die sich nun als slowakische Juden ausgeben, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen, für den Fall, dass sie gefasst werden.
Nicht alle können zusammen losfahren. Die Plätze sind rar und begehrt. Gittel fährt schon am 30. Dezember, ihre Geschwister bekommen zwei Wochen später einen Platz im Bunker unter der Kohle zugewiesen. Zu diesem Zeitpunkt weiß noch niemand in Medzilaborce, dass Gittels Zug am 7. Januar 1943 in Feldkirch aufgeflogen ist.
Gittel Balbirer, das siebzehnjährige „Mädel“ in Reithmeyers Bericht, wird einige Tage im Feldkircher Gefängnis inhaftiert. Im Eingangsprotokoll des Gefangenenbuchs erscheint sie unter dem falschen Namen, den sie sich für die Flucht zugelegt hat: Sara Schönfeld.[3]
Am 15. Januar, noch bevor ihre Geschwister in Feldkirch ebenfalls verhaftet werden, wird Gittel Balbirer nach Wien weiter transportiert. Von dort wird sie schließlich zusammen mit etwa 30 anderen slowakischen und polnischen Juden am 3. März mit dem Transport 47a nach Auschwitz deportiert. Dort verliert sich ihre Spur.
Ihre Geschwister Mendel und Basia werden zunächst ins Gefangenenhaus in Bregenz überstellt. Von dort ins KZ Reichenau bei Innsbruck. Auch sie kommen im Mai 1943 in Auschwitz an.
Basia und Mendel erleben 1945 die Befreiung. Nach drei Jahren als Displaced Persons in Österreich emigrieren sie 1948 nach Montevideo in Uruguay. Mit dem Schiff Partizanka.
Ihre Schwester Gittel haben sie nicht wieder gesehen, weder in Auschwitz noch danach.[4]
Leseempfehlung:
Rahel Gort, Versteckt unter Kohle. Die riskante Flucht von Juden aus der Slowakei in die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Magisterarbeit. Pädagogische Hochschule St. Gallen, 2017: https://www.phsg.ch/sites/default/files/cms/Dienstleistung/Fachstellen-und-Kompetenzzentren/Demokratiebildung%20und%20Menschenrechte/Masterarbeiten/Masterarbeit_Rahel%20Gort_definitive%20Version_25.8.17.pdf
(Abgerufen 13.7.2022)
Karl Heinz Burmeister, Geschichte der Juden in Stadt und Herrschaft Feldkirch. Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 31. Feldkirch 1993, S. 178-181.
[1] Chronik des Hauptzollamt Feldkirch, 7.1.1943, Stadtarchiv Feldkirch
[2] Basia (Basha) Balbirer, Interview in Petah Tikva, 8.6.2010, Archiv Yad Vashem. Auch die weiteren Informationen zu der Geschichte der Familie stammen aus diesem Interview.
[2] Justizanstalt Feldkirch, Vormerkbuch 1942-1943; VLA, Feldkirch
[2] Bis zu ihrem Lebensende (Mendel starb 2015 und Basia 2021) haben die beiden das Schicksal ihrer Schwester aufzuklären versucht. Aber erst eine E-Mail von Mendels Tochter aus Kanada an die Israelitische Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg im Jahr 2022 brachte die Recherchen in Gang, die es möglich machten, den Weg Gittels von Feldkirch nach Auschwitz zu rekonstruieren. Wann sie dort ums Leben kam, oder ob sie von Auschwitz noch weiter deportiert wurde, ist ungewiss.