34 Bohumil Snižek
Von Prag nach Gibraltar und zurück – über Vorarlberg, die Schweiz und Dünkirchen. Bohumil Pavel Snižek auf dem Weg durch Europa
Koblach, 26. August 1941
„Ich schleiche leise durch das Dickicht. Das Flussufer wird kontrolliert, der Trampelpfad verrät, dass die Soldaten, die die Grenze bewachen, diesen Weg oft passieren. Ich warte eine Weile, wage mich bis zum Fluss, kehre aber schnell wieder zurück.“
Ein junger Tscheche will über den Rhein. Es ist der 26. August 1941.
„Schnell aber leise schlüpfe ich ins Wasser und schwimme, das Bündel meiner Kleider mit einem Gürtel um den Hals gebunden, auf dem Wasser treibend. Ich bin bereits in der Mitte des Flusses. Mein Gehör ist angespannt, sobald das Geräusch von Schüssen zu hören ist, muss ich tauchen. Ich nähere mich bereits dem anderen Ufer, die Spannung lässt nach. Ich trete aus dem flachen Uferbereich heraus und verschnaufe. Ich versuche, zurückzublicken, es scheint hell zu werden. Der Nebel zieht über den Fluss. Ich wische das Wasser von mir ab und ziehe mich an. Ein seltsames Gefühl überkommt mich. Ich liege außerhalb der Reichweite der Macht des Großen Deutschen Reiches!“[1]
Zwei Wochen zuvor ist er von seinem Elternhaus in Chrast, einer kleinen Stadt mitten im damaligen „Protektorat Böhmen und Mähren“ aufgebrochen um in die Schweiz zu kommen. Mit dem Fahrrad ist er 240 Kilometer nach Westen gefahren, bis nach Pilsen. Von dort ging es zu Fuß über die Grenze ins Deutsche Reich und mit der Bahn weiter. Über Eger, Marktredwitz und München, weiter über Lindau und Hohenems bis nach Götzis.
Um 1.00 nachts kommt er dort an, sucht und findet den Fluss und erreicht das andere Ufer. Er geht einen Kanal entlang, weicht Schweizer Grenzposten aus. Im nächsten Dorf, in Oberriet, ist die Welt bereits erwacht. Schulkinder sind schon auf dem Weg. Niemand wird auf ihn aufmerksam. Er grüßt andere Menschen auf der Straße, als wäre das ganz normal.
„Ein warmer Balsam für eine zerkratzte Seele […] Ich konnte das Aroma von echtem Kaffee mit fetter Milch riechen, den Geruch von frisch gebackenem Brot aus der Bäckerei. Ich habe schon den dritten Tag nichts mehr gegessen.“
Zu Fuß macht er sich weiter auf den Weg, über die Landstraße nach Gams und hinauf nach Wildhaus. Sein Ziel ist Zürich. Doch im Toggenburg, in Alt St. Johann, wird er verhaftet. In St. Gallen wird er von der Politischen Abteilung des Kantonalen Polizeikommandos einvernommen. Der junge Tscheche weist sich als Bohumil Pavel Snižek aus. Er ist siebenundzwanzig Jahre alt und voller Hoffnung, dass alles gut ausgeht für ihn. Denn er hat viel vor. Und schon einiges hinter sich. Ende 1938 hat er seinen Militärdienst beendet – kurz darauf marschiert die Wehrmacht ein und zerschlägt die Tschechoslowakei.
„Schlagartig war aber auch eine grosse Unzufriedenheit unter dem tschechischen Volke bemerkbar.“
So protokolliert der Schweizer Polizist Snižeks Einvernahme.
„Wir wurden jedoch stark beobachtet, sodass ich annehmen musste eines schönen Tages durch einen Vorwand in Haft gesetzt zu werden. Die freie Aussprache war nicht mehr möglich, da die Deutschen auch unter unsern Landsleuten viele Spitzel hatten. So kam es, dass ich im Januar 1940 […] zusammen mit ca. 30 Personen aus der Stadt verhaftet und ins Gefängnis nach Prag überführt wurde. Hier liess man mich nach 8 Tagen wieder gehen.“[2]
Aber spätestens jetzt reift in ihm der Entschluss, aus dem Machtbereich der Nazis zu fliehen.
Snižek gibt an, er wolle in Zürich zu einem Bekannten, den er aus seiner Studienzeit in England her kenne – und aus der gemeinsamen Mitgliedschaft in der pazifistischen Organisation „Internationaler Zivildienst“. Der „Service Civil International“ suchte seit 1920 Wege zur Völkerverständigung und leistete Katastrophenhilfe, unter seinem Schweizer Präsidenten Pierre Cérésole.
Snižek bleibt im St. Galler Gefängnis und wird mehrmals verhört. Das Schweizer Armeekommando zieht Erkundigungen ein. Und entscheidet, Snižek ins Deutsche Reich abzuschieben. Ob es damit zu tun hat, dass Cérésole auch in der Schweiz als radikaler Pazifist und Kriegsdienstverweigerer schon mehrere Gefängnistrafen verbüßen musste?
Doch statt abgeschoben zu werden, bekommt Snižek vom Gefängnisdirektor am 17. Oktober eine Adresse in Genf gereicht – und die Aufforderung sich direkt dorthin zu begeben. Es ist der Vertreter der tschechoslowakischen Exilregierung in London: Jaromír Kopecký, der Verbindungsmann zum Widerstand in Europa.
Ein halbes Jahr lang arbeitet Snižek unter seiner Obhut in Genf. Dann will er endlich weiter nach England um sich der tschechoslowakischen Exilarmee anzuschließen.
Doch der Weg dorthin führt noch über viele Hindernisse und Grenzen. Zunächst gilt es, sich zusammen mit einem Kameraden namens Jan Kocmanek nach Marseille durchzuschlagen um sich bei der tschechoslowakischen Hilfsorganisation des Rechtsanwalts Oldřich Dubina zu melden.
Einige Tage werden die beiden in einem Bauernhof versteckt, bevor es weiter nach Toulouse und von dort nach Banyuls an die spanische Grenze geht. Am 2. Mai bringt ein Schlepper die beiden zusammen mit acht weiteren Tschechen über das Vorgebirge der Pryenäen nach Port Bou. Von diesem Moment an nennt sich Bohumil Snižek Paul Snow und nimmt die Identität eines englischen Soldaten an.
In Barcelona werden sie verhaftet und im Gefängnis Casela Modelo festgehalten. Anfang Juli werden sie von dort ins spanische Konzentrationslager Miranda de Ebro gebracht. Noch immer droht Snižek die Auslieferung an die Deutschen. Aber die spanischen Faschisten versuchen inzwischen sich als Diener zweier Herren durchzulavieren, und ihre Neutralität im Krieg zu bewahren. So werden die Tschechen nicht ausgeliefert, sondern im September stattdessen nach Gibraltar abgeschoben, zu den Briten. Genau dort, wohin sie wollen. Ende Oktober wird Snižek alias Paul Snow nach England mit seinen Kameraden nach England geflogen. Und auch dort warten Verhöre auf ihn. Seine Odyssee kommt dem britischen Militär allzu abenteuerlich vor. Ist er womöglich ein deutscher Agent?
Schließlich kann Snižek die Zweifel zerstreuen. Und tritt in die Tschechoslowakische Unabhängige Brigade in der britischen Armee ein.
Zwei Jahre später setzt er Ende August 1944 als Leutnant der Tschechoslowakischen Panzerbrigade nach Frankreich über. Dort wird die Tschechoslowakische Exilarmee von den Briten gegen die deutschen Stellungen in Dünkirchen eingesetzt. Der Versuch, die Hafenstadt am 28. Oktober 1944 einzunehmen schlägt fehl. Es bleibt die einzige große Schlacht die die Alliierten der Exilarmee erlaubt hatten. Noch bis zur deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 müssen die tschechoslowakischen Brigaden die Einkesselung von Dünkirchen fortsetzen.
Als Bohumil Snižek schließlich nach Hause zurückkehren darf, ist Prag von der Roten Armee befreit und besetzt zugleich. Auf Rückkehrer aus dem Westen wie ihn wartet kein Ruhm, sondern bestenfalls das Vergessen – oder Prozesse wegen „amerikanischer Spionage“ und „Kosmopolitismus“. Bohumil Snižek stirbt 1959 an den Folgen seiner Kriegsverletzungen. Seine bislang unveröffentlichte Autobiographie hat er unter dem Namen Paul Snow verfasst.
[1] Paul Snow (Bohumil Snižek, Cesta Nadeje (Weg der Hoffnung), unveröffentlichte Autobiographie, zitiert nach Zdeněk Holenka, Bojová cetsa Bohumila Snižka. Z Protektorátu a zpět do ČSR (5. květen 1941 - 20. květen 1945), Diplomarbeit 2008 (Bohumil Snižeks Weg des Kampfes. Aus dem Protektorat und zurück in die Tschechoslowakei (5. Mai 1941 – 20. Mai 1945), S. 29.
[2] „Einvernahme von Bohumil Snizek am 28.08.1941, Schweizerisches Bundesarchiv, E4320B#1990/266#2848*.
34 Bohumil Snižek
Von Prag nach Gibraltar und zurück – über Vorarlberg, die Schweiz und Dünkirchen. Bohumil Pavel Snižek auf dem Weg durch Europa
Koblach, 26. August 1941
„Ich schleiche leise durch das Dickicht. Das Flussufer wird kontrolliert, der Trampelpfad verrät, dass die Soldaten, die die Grenze bewachen, diesen Weg oft passieren. Ich warte eine Weile, wage mich bis zum Fluss, kehre aber schnell wieder zurück.“
Ein junger Tscheche will über den Rhein. Es ist der 26. August 1941.
„Schnell aber leise schlüpfe ich ins Wasser und schwimme, das Bündel meiner Kleider mit einem Gürtel um den Hals gebunden, auf dem Wasser treibend. Ich bin bereits in der Mitte des Flusses. Mein Gehör ist angespannt, sobald das Geräusch von Schüssen zu hören ist, muss ich tauchen. Ich nähere mich bereits dem anderen Ufer, die Spannung lässt nach. Ich trete aus dem flachen Uferbereich heraus und verschnaufe. Ich versuche, zurückzublicken, es scheint hell zu werden. Der Nebel zieht über den Fluss. Ich wische das Wasser von mir ab und ziehe mich an. Ein seltsames Gefühl überkommt mich. Ich liege außerhalb der Reichweite der Macht des Großen Deutschen Reiches!“[1]
Zwei Wochen zuvor ist er von seinem Elternhaus in Chrast, einer kleinen Stadt mitten im damaligen „Protektorat Böhmen und Mähren“ aufgebrochen um in die Schweiz zu kommen. Mit dem Fahrrad ist er 240 Kilometer nach Westen gefahren, bis nach Pilsen. Von dort ging es zu Fuß über die Grenze ins Deutsche Reich und mit der Bahn weiter. Über Eger, Marktredwitz und München, weiter über Lindau und Hohenems bis nach Götzis.
Um 1.00 nachts kommt er dort an, sucht und findet den Fluss und erreicht das andere Ufer. Er geht einen Kanal entlang, weicht Schweizer Grenzposten aus. Im nächsten Dorf, in Oberriet, ist die Welt bereits erwacht. Schulkinder sind schon auf dem Weg. Niemand wird auf ihn aufmerksam. Er grüßt andere Menschen auf der Straße, als wäre das ganz normal.
„Ein warmer Balsam für eine zerkratzte Seele […] Ich konnte das Aroma von echtem Kaffee mit fetter Milch riechen, den Geruch von frisch gebackenem Brot aus der Bäckerei. Ich habe schon den dritten Tag nichts mehr gegessen.“
Zu Fuß macht er sich weiter auf den Weg, über die Landstraße nach Gams und hinauf nach Wildhaus. Sein Ziel ist Zürich. Doch im Toggenburg, in Alt St. Johann, wird er verhaftet. In St. Gallen wird er von der Politischen Abteilung des Kantonalen Polizeikommandos einvernommen. Der junge Tscheche weist sich als Bohumil Pavel Snižek aus. Er ist siebenundzwanzig Jahre alt und voller Hoffnung, dass alles gut ausgeht für ihn. Denn er hat viel vor. Und schon einiges hinter sich. Ende 1938 hat er seinen Militärdienst beendet – kurz darauf marschiert die Wehrmacht ein und zerschlägt die Tschechoslowakei.
„Schlagartig war aber auch eine grosse Unzufriedenheit unter dem tschechischen Volke bemerkbar.“
So protokolliert der Schweizer Polizist Snižeks Einvernahme.
„Wir wurden jedoch stark beobachtet, sodass ich annehmen musste eines schönen Tages durch einen Vorwand in Haft gesetzt zu werden. Die freie Aussprache war nicht mehr möglich, da die Deutschen auch unter unsern Landsleuten viele Spitzel hatten. So kam es, dass ich im Januar 1940 […] zusammen mit ca. 30 Personen aus der Stadt verhaftet und ins Gefängnis nach Prag überführt wurde. Hier liess man mich nach 8 Tagen wieder gehen.“[2]
Aber spätestens jetzt reift in ihm der Entschluss, aus dem Machtbereich der Nazis zu fliehen.
Snižek gibt an, er wolle in Zürich zu einem Bekannten, den er aus seiner Studienzeit in England her kenne – und aus der gemeinsamen Mitgliedschaft in der pazifistischen Organisation „Internationaler Zivildienst“. Der „Service Civil International“ suchte seit 1920 Wege zur Völkerverständigung und leistete Katastrophenhilfe, unter seinem Schweizer Präsidenten Pierre Cérésole.
Snižek bleibt im St. Galler Gefängnis und wird mehrmals verhört. Das Schweizer Armeekommando zieht Erkundigungen ein. Und entscheidet, Snižek ins Deutsche Reich abzuschieben. Ob es damit zu tun hat, dass Cérésole auch in der Schweiz als radikaler Pazifist und Kriegsdienstverweigerer schon mehrere Gefängnistrafen verbüßen musste?
Doch statt abgeschoben zu werden, bekommt Snižek vom Gefängnisdirektor am 17. Oktober eine Adresse in Genf gereicht – und die Aufforderung sich direkt dorthin zu begeben. Es ist der Vertreter der tschechoslowakischen Exilregierung in London: Jaromír Kopecký, der Verbindungsmann zum Widerstand in Europa.
Ein halbes Jahr lang arbeitet Snižek unter seiner Obhut in Genf. Dann will er endlich weiter nach England um sich der tschechoslowakischen Exilarmee anzuschließen.
Doch der Weg dorthin führt noch über viele Hindernisse und Grenzen. Zunächst gilt es, sich zusammen mit einem Kameraden namens Jan Kocmanek nach Marseille durchzuschlagen um sich bei der tschechoslowakischen Hilfsorganisation des Rechtsanwalts Oldřich Dubina zu melden.
Einige Tage werden die beiden in einem Bauernhof versteckt, bevor es weiter nach Toulouse und von dort nach Banyuls an die spanische Grenze geht. Am 2. Mai bringt ein Schlepper die beiden zusammen mit acht weiteren Tschechen über das Vorgebirge der Pryenäen nach Port Bou. Von diesem Moment an nennt sich Bohumil Snižek Paul Snow und nimmt die Identität eines englischen Soldaten an.
In Barcelona werden sie verhaftet und im Gefängnis Casela Modelo festgehalten. Anfang Juli werden sie von dort ins spanische Konzentrationslager Miranda de Ebro gebracht. Noch immer droht Snižek die Auslieferung an die Deutschen. Aber die spanischen Faschisten versuchen inzwischen sich als Diener zweier Herren durchzulavieren, und ihre Neutralität im Krieg zu bewahren. So werden die Tschechen nicht ausgeliefert, sondern im September stattdessen nach Gibraltar abgeschoben, zu den Briten. Genau dort, wohin sie wollen. Ende Oktober wird Snižek alias Paul Snow nach England mit seinen Kameraden nach England geflogen. Und auch dort warten Verhöre auf ihn. Seine Odyssee kommt dem britischen Militär allzu abenteuerlich vor. Ist er womöglich ein deutscher Agent?
Schließlich kann Snižek die Zweifel zerstreuen. Und tritt in die Tschechoslowakische Unabhängige Brigade in der britischen Armee ein.
Zwei Jahre später setzt er Ende August 1944 als Leutnant der Tschechoslowakischen Panzerbrigade nach Frankreich über. Dort wird die Tschechoslowakische Exilarmee von den Briten gegen die deutschen Stellungen in Dünkirchen eingesetzt. Der Versuch, die Hafenstadt am 28. Oktober 1944 einzunehmen schlägt fehl. Es bleibt die einzige große Schlacht die die Alliierten der Exilarmee erlaubt hatten. Noch bis zur deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 müssen die tschechoslowakischen Brigaden die Einkesselung von Dünkirchen fortsetzen.
Als Bohumil Snižek schließlich nach Hause zurückkehren darf, ist Prag von der Roten Armee befreit und besetzt zugleich. Auf Rückkehrer aus dem Westen wie ihn wartet kein Ruhm, sondern bestenfalls das Vergessen – oder Prozesse wegen „amerikanischer Spionage“ und „Kosmopolitismus“. Bohumil Snižek stirbt 1959 an den Folgen seiner Kriegsverletzungen. Seine bislang unveröffentlichte Autobiographie hat er unter dem Namen Paul Snow verfasst.
[1] Paul Snow (Bohumil Snižek, Cesta Nadeje (Weg der Hoffnung), unveröffentlichte Autobiographie, zitiert nach Zdeněk Holenka, Bojová cetsa Bohumila Snižka. Z Protektorátu a zpět do ČSR (5. květen 1941 - 20. květen 1945), Diplomarbeit 2008 (Bohumil Snižeks Weg des Kampfes. Aus dem Protektorat und zurück in die Tschechoslowakei (5. Mai 1941 – 20. Mai 1945), S. 29.
[2] „Einvernahme von Bohumil Snizek am 28.08.1941, Schweizerisches Bundesarchiv, E4320B#1990/266#2848*.