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    Zollamt Hohenems, 2021
    Dietmar Walser, Hohenems

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    Ehemalige Fabrik Sandherr in Diepoldsau, 2021
    Dietmar Walser, Hohenems

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    Aufnahme aus dem Flüchtlingslager Diepoldsau, um 1940
    Archiv des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, Zürich

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    Martha Müller mit ihren Sohn Heinz Müller im Flüchtlingslager Diepoldsau, Juni 1939
    Sammlung Heinz Müller, Jüdisches Museum Hohenems



25    Heinz Müller> Dezember 1938


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25 Heinz Müller

„Das sind Sachen, die sind tief, tief eingegraben“: Heinz Müller erinnert sich an seine Kindheit als Flüchtling
Hohenems – Diepoldsau, Dezember 1938

„Meine Mutter hat mir ja nur folgendes gesagt: [...] wir gehen jetzt dort über die Grenze, und wenn du dort hinkommst, dann musst du weinen, musst sagen es ist dir kalt und du willst den Papa sehen, und so weiter und so weiter, einfach irgendetwas machen, dann besteht eventuell die Möglichkeit, dass sie uns durchlassen. Weil zur damaligen Zeit hat man die Juden eigentlich noch aus Österreich oder aus dem deutschen Reich rausfahren lassen, man war ja froh über jeden, der rausgegangen ist.“ [1]

Heinz Müller überwindet im Dezember 1938 mit seiner Mutter den Grenzübergang Diepoldsau von Hohenems in die Schweiz. Fünf Jahre ist er damals alt. Sein Vater, der aus Rumänien stammende Kürschner Tobias Müller, hat 1938 in Wien in einem jüdischen Auswandererlager eine Ausbildung als Koch absolviert – und ist im Herbst 1938 in die Schweiz geflohen. Im Flüchtlingslager Diepoldsau hat er als Koch Arbeit gefunden. 2006 erinnert sich Heinz Müller in Basel an seine eigene Flucht, die der Vater von Diepoldsau vorbereitet hat.

„Und so haben wir das dann gemacht. Es war dann auch wirklich bitter kalt, in diesem Dezember hat es riesig viel Schnee gehabt, und wie mein Vater damals illegal in die Schweiz eingereist ist, hat er sich ja bei der Überquerung des alten Rhein – ist er eingebrochen und hat sich dort den Fuß verstaucht, und ist zufälligerweise an das Haus des Landjägers gekommen, also von dem Polizisten, der dort zuständig war für das Gebiet. Und so konnten wir dann nach langem Ach und Krach, dadurch dass wir auch praktisch nichts in der Hand gehabt haben, ich weiß nicht was für Ausweise wir gehabt haben, man hat wahrscheinlich schon irgendetwas gehabt, ein Papier, aber wir haben keine Pässe gehabt. Und wie wir über die Schweizer Grenze gekommen sind, weiß ich eigentlich auch nicht mehr genau.

Ich kann mich nur erinnern, dass es sehr neblig war, und dass wir eigentlich nicht gesehen haben, wie mein Vater gekommen ist, sondern wir haben ihn nur gehört. Wie er gepfiffen und gerufen hat. Und dann sind wir hingekommen und es kann natürlich sein, dass mit Absprache mit dem Landjäger, dass es da für uns etwas leichter gewesen ist, weil an der Grenze war praktisch niemand. Also wir waren mehr oder weniger damals allein dort auf dem Zollhaus, das heißt, wir wurden in das Zollhaus hineingenommen, und dort hat man und ausgequetscht, und dann hat man gesagt: Verschwindets! Und das war eigentlich unser Glück, weil von dort, von Hohenems aus, sind viele Leute, die im Lager waren und die man dann zurückgestellt hat, die sind dann meistens über Hohenems wieder rausgeschmissen worden.“

Vom Flüchtlingslager Diepoldsau kommt die Familie später nach Basel, wo Tobias Müller die Leitung der Küche im Flüchtlingslager „Sommercasino“ übernimmt. Immer wieder wird die Familie von der Schweizer Fremdenpolizei aufgefordert, ihre weitere Auswanderung zu betreiben. Erst lange nach dem Krieg gelingt es Heinz Müller die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erwerben. 

„Das sind Sachen, die sehr tief in den Kindern drin gewesen sind und das hat sicher dem einen oder anderen ein gewisses Trauma gegeben. Also dass man gesagt hat, auch die Kinder – nicht nur die Erwachsenen – auch die Kinder sind unter einem gewissen Druck gestanden und haben das quasi miterlebt. Und das ist jetzt das eigenartige, dass ich, wenn man mich dann später gefragt hat, jetzt bist du ja Schweizer [...] ich hab so viele Sachen erlebt, die mich eigentlich [...] ja, ich bin auf dem Papier ein Schweizer, aber das ich das Gefühl hätte, dass ich da wirklich dazugehöre, oder dass ich ein Teil davon wäre, ich hab so viele Sachen erlebt, die es mir schwer machen, mich quasi, wie man so schön sagt, zu identifizieren. Obwohl jetzt doch schon wieder weitere 65 Jahre ins Land gegangen sind, die eigentlich vergangen sind. Aber das sind Sachen, die sind tief, tief eingegraben. Und das sind Sachen, die vergisst man nicht. Und genauso, wie man hier gedrückt worden ist, wie weit, wie steht es mit der Auswanderung, man musste alle Viertel Jahre vorweisen was man getan hat für die Auswanderung und so weiter. Also die Schweizer haben es uns absolut nicht leicht gemacht, hier zu sein. Und jetzt bin ich ein Teil davon, von der Schweiz, aber ich bin mein eigener Teil.“

[1] Archiv des Jüdischen Museums Hohenems, Interview mit Heinz Müller, Basel 2006.

 

Familie Müller in Diepoldsau, Januar 1939
Archiv Jüdisches Museum Hohenems


Tobias Müller als Koch im Lager Diepoldsau, Pessach 1939
Archiv Jüdisches Museum Hohenems


Das von Tobias Müller geführte Küchenbuch der Lagerküche in Diepoldsau, 1939
Sammlung Jüdisches Museum Hohenems

 

25 Heinz Müller

„Das sind Sachen, die sind tief, tief eingegraben“: Heinz Müller erinnert sich an seine Kindheit als Flüchtling
Hohenems – Diepoldsau, Dezember 1938

„Meine Mutter hat mir ja nur folgendes gesagt: [...] wir gehen jetzt dort über die Grenze, und wenn du dort hinkommst, dann musst du weinen, musst sagen es ist dir kalt und du willst den Papa sehen, und so weiter und so weiter, einfach irgendetwas machen, dann besteht eventuell die Möglichkeit, dass sie uns durchlassen. Weil zur damaligen Zeit hat man die Juden eigentlich noch aus Österreich oder aus dem deutschen Reich rausfahren lassen, man war ja froh über jeden, der rausgegangen ist.“ [1]

Heinz Müller überwindet im Dezember 1938 mit seiner Mutter den Grenzübergang Diepoldsau von Hohenems in die Schweiz. Fünf Jahre ist er damals alt. Sein Vater, der aus Rumänien stammende Kürschner Tobias Müller, hat 1938 in Wien in einem jüdischen Auswandererlager eine Ausbildung als Koch absolviert – und ist im Herbst 1938 in die Schweiz geflohen. Im Flüchtlingslager Diepoldsau hat er als Koch Arbeit gefunden. 2006 erinnert sich Heinz Müller in Basel an seine eigene Flucht, die der Vater von Diepoldsau vorbereitet hat.

„Und so haben wir das dann gemacht. Es war dann auch wirklich bitter kalt, in diesem Dezember hat es riesig viel Schnee gehabt, und wie mein Vater damals illegal in die Schweiz eingereist ist, hat er sich ja bei der Überquerung des alten Rhein – ist er eingebrochen und hat sich dort den Fuß verstaucht, und ist zufälligerweise an das Haus des Landjägers gekommen, also von dem Polizisten, der dort zuständig war für das Gebiet. Und so konnten wir dann nach langem Ach und Krach, dadurch dass wir auch praktisch nichts in der Hand gehabt haben, ich weiß nicht was für Ausweise wir gehabt haben, man hat wahrscheinlich schon irgendetwas gehabt, ein Papier, aber wir haben keine Pässe gehabt. Und wie wir über die Schweizer Grenze gekommen sind, weiß ich eigentlich auch nicht mehr genau.

Ich kann mich nur erinnern, dass es sehr neblig war, und dass wir eigentlich nicht gesehen haben, wie mein Vater gekommen ist, sondern wir haben ihn nur gehört. Wie er gepfiffen und gerufen hat. Und dann sind wir hingekommen und es kann natürlich sein, dass mit Absprache mit dem Landjäger, dass es da für uns etwas leichter gewesen ist, weil an der Grenze war praktisch niemand. Also wir waren mehr oder weniger damals allein dort auf dem Zollhaus, das heißt, wir wurden in das Zollhaus hineingenommen, und dort hat man und ausgequetscht, und dann hat man gesagt: Verschwindets! Und das war eigentlich unser Glück, weil von dort, von Hohenems aus, sind viele Leute, die im Lager waren und die man dann zurückgestellt hat, die sind dann meistens über Hohenems wieder rausgeschmissen worden.“

Vom Flüchtlingslager Diepoldsau kommt die Familie später nach Basel, wo Tobias Müller die Leitung der Küche im Flüchtlingslager „Sommercasino“ übernimmt. Immer wieder wird die Familie von der Schweizer Fremdenpolizei aufgefordert, ihre weitere Auswanderung zu betreiben. Erst lange nach dem Krieg gelingt es Heinz Müller die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erwerben. 

„Das sind Sachen, die sehr tief in den Kindern drin gewesen sind und das hat sicher dem einen oder anderen ein gewisses Trauma gegeben. Also dass man gesagt hat, auch die Kinder – nicht nur die Erwachsenen – auch die Kinder sind unter einem gewissen Druck gestanden und haben das quasi miterlebt. Und das ist jetzt das eigenartige, dass ich, wenn man mich dann später gefragt hat, jetzt bist du ja Schweizer [...] ich hab so viele Sachen erlebt, die mich eigentlich [...] ja, ich bin auf dem Papier ein Schweizer, aber das ich das Gefühl hätte, dass ich da wirklich dazugehöre, oder dass ich ein Teil davon wäre, ich hab so viele Sachen erlebt, die es mir schwer machen, mich quasi, wie man so schön sagt, zu identifizieren. Obwohl jetzt doch schon wieder weitere 65 Jahre ins Land gegangen sind, die eigentlich vergangen sind. Aber das sind Sachen, die sind tief, tief eingegraben. Und das sind Sachen, die vergisst man nicht. Und genauso, wie man hier gedrückt worden ist, wie weit, wie steht es mit der Auswanderung, man musste alle Viertel Jahre vorweisen was man getan hat für die Auswanderung und so weiter. Also die Schweizer haben es uns absolut nicht leicht gemacht, hier zu sein. Und jetzt bin ich ein Teil davon, von der Schweiz, aber ich bin mein eigener Teil.“

[1] Archiv des Jüdischen Museums Hohenems, Interview mit Heinz Müller, Basel 2006.

 

Familie Müller in Diepoldsau, Januar 1939
Archiv Jüdisches Museum Hohenems


Tobias Müller als Koch im Lager Diepoldsau, Pessach 1939
Archiv Jüdisches Museum Hohenems


Das von Tobias Müller geführte Küchenbuch der Lagerküche in Diepoldsau, 1939
Sammlung Jüdisches Museum Hohenems

 

Kurzbiografien der genannten Personen

Heinz Müller geboren 1933 in Wien. Während sein Vater Tobias Müller, der sich im Sommer 1938 in einem Wiener Auswandererlager zum Koch ausbilden ließ, schon im Herbst die Flucht nach Diepoldsau in die Schweiz gelang, folgten Heinz Müller und seine Mutter erst im Dezember 1938 nach. Gemeinsam wurden sie im Flüchtlingslager Diepoldsau untergebracht, wo Tobias Müller nun als Koch arbeitete. Später kam die Familie im Basler Flüchtlingslager im „Sommercasino“ unter, deren Küche Tobias Müller übernahm. Erst lange nach dem Krieg gelang es Heinz Müller, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erwerben und er ließ sich in Basel nieder.