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    Paul-Grüninger-Brücke zwischen Diepoldsau und Hohenems, 2020
    Dietmar Walser, Hohenems

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    Grenzposten beim Zollamt in Hohenems, Juli 1940
    Jüdisches Museum Hohenems

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    Gedenktafel zu Paul Grüninger an der nach ihm benannten Brücke, 2021
    Dietmar Walser, Hohenems

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    Paul Grüninger in Uniform, 1925
    Jüdisches Museum Hohenems

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    Kantonspolizei St. Gallen, 2022
    Dietmar Walser, Hohenems



23    Paul Grüninger> 17. August 1938


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23 Paul Grüninger

„Können wir unsere Grenzen nicht besser verschließen?“ Paul Grüninger und die Schweizer Flüchtlingspolitik
Bern, 17. August 1938

 Am 17. August 1938 lädt Heinrich Rothmund, Chef der Fremdenpolizei im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement die kantonalen Polizeidirektoren nach Bern ins Zimmer 86 des Parlamentsgebäudes. Die außerordentliche Konferenz soll die Lage an der Grenze beraten und den Umgang mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen, die aus dem Deutschen Reich versuchen in die Schweiz zu gelangen. Einer der Teilnehmer ist der Hauptmann der Kantonspolizei von St. Gallen, Paul Grüninger.

Rothmund eröffnet die Konferenz mit einem Lagebericht, der die Situation dramatisch erscheinen lässt. Weit mehr als 1000 illegale Flüchtlinge befänden sich in der Schweiz. Und das Deutsche Reich würde nun auch an alle Österreicherinnen und Österreicher deutsche Pässe verteilen. Man müsse über eine Ausdehnung der für Österreicher geltenden Visumpflicht für alle Deutsche nachdenken. Der Züricher Polizeidirektor Robert Briner, seines Zeichens auch Präsident der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe, liefert das von Rothmund erwartete Stichwort:

„Können wir unsere Grenzen nicht besser verschließen? Die Entfernung der Flüchtlinge ist schwieriger als ihre Fernhaltung.“

Der St. Galler Regierungsrat Valentin Keel spricht von der „Kulturschande der Judenverfolgung“ in Deutschland, eine Bemerkung, die ins Protokoll nicht aufgenommen wird. Der Thurgauer Polizeichef Ernst Haudenschild weiß darauf folgende Antwort:

„Die grösste Strafe für die deutschen Behörden ist die Zurückschiebung aller Flüchtlinge. Heute beschäftigen uns die Juden, in einigen Monaten wohl andere Flüchtlinge aus Deutschland. Unsere kantonale Regierung hat uns strikte Weisung erteilt, alle Flüchtlinge abzuweisen. Wir haben keine politischen und keine jüdischen Flüchtlinge in unserem Kanton. Man mag in Bern befehlen und beschliessen, was man will, unser Kanton wird keine Flüchtlinge zulassen.“

Es ist Paul Grüninger, der offenen Widerspruch wagt:

„Die Ausführungen des Vorredner überraschen. Die Rückweisung der Flüchtlinge geht schon aus Erwägungen der Menschlichkeit nicht. Wir müssen viele hereinlassen. Wir haben ein Interesse daran, diese Leute möglichst zusammen zu erhalten, damit die Kontrolle erfolgen kann und ebenfalls aus hygienischen Gründen. Wenn wir die Leute abweisen, kommen sie eben ‚schwarz‘ und unkontrollierbar. Vollkommene Abschließung der Grenze ist nicht möglich.“[1]

Unterstützung für Grüninger kommt vor allem vom Vertreter Graubündens, Departementssekretär Dr. Bühler. Auch die sozialdemokratischen Vertreter aus Basel und Schaffhausen, Polizeidirektor Brechbühl und Regierungsrat Bührer, sprechen sich – vorläufig – gegen rücksichtslose Abschiebungen und Zurückweisungen aus. Die übrigen fordern, ganz im Sinne Rothmunds, die sofortige Schließung der Grenzen.

In der folgenden Pressemitteilung ist von den abweichenden Meinungen nicht mehr die Rede. Einmütig habe man die Grenzschließung gegenüber Flüchtlingen beschlossen. Zwei Tage später wird den Polizeidirektoren mitgeteilt,

„dass eine weitere Zureise von illegalen Flüchtlingen nicht geduldet werden könne. […] Da die Ostgrenze namentlich bei Diepoldsau schwer zu schützen ist, wurde die dortige Grenzkontrolle aus den Beständen der freiwilligen Grenzschutzkompagnien verstärkt.“[2]

Paul Grüninger, der sich in der Konferenz offen gegen die Grenzschließung ausgesprochen hat, ist zu diesem Zeitpunkt schon seit Wochen mit den Anordnungen aus Bern im Konflikt.

1891 in St. Gallen geboren, hatte Grüninger zunächst eine Laufbahn als Primarlehrer eingeschlagen. Und als leidenschaftlicher Fußballer hatte er mit seinem Team, dem St. Galler Club FC Brühl, 1915 als Linksaußenstürmer die Schweizer Meisterschaft gewonnen. 1919 wechselt Grüninger in den Polizeidienst, wo er 1925 zum Kommandanten der St. Galler Kantonspolizei aufsteigt. Und Präsident seines Fußballvereins wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

Hochzeitsfoto von Alice und Paul Grüninger, 1921

1938 ist Grüninger mit der Not der Flüchtlinge konfrontiert. Zunächst reagiert er unentschieden, dann gehorcht er immer stärker seinem Mitgefühl. Immer wieder kommen Flüchtlinge, denen es gelungen ist illegal über die Grenze zu gelangen, in sein Büro in St. Gallen und bitten um eine Aufenthaltsgenehmigung, immer öfter wird er selbst an die Grenze gerufen um an Ort und Stelle zu entscheiden. Und meistens entscheidet er zugunsten der Flüchtlinge. Die Israelitische Flüchtlingshilfe unter Sidney Dreyfus richtet in St. Gallen ein eigenes Büro ein. Anfang August reichen die Flüchtlingsquartiere in Privatunterkünften und Pensionen nicht mehr aus. In Diepoldsau richtet Grüninger in einem leerstehenden Stickereilokal ein Flüchtlingslager ein. Die Kosten dafür muss die Israelitische Flüchtlingshilfe tragen, wie auch sonst für die Versorgung der Flüchtlinge. Schließlich beginnt Grüninger auch damit, Wertgegenstände für die Flüchtlinge über die Grenze zu schmuggeln.
Als mit der Grenzschließung am 18. August die Anweisung kommt, niemand mehr aufzunehmen, bleibt Grüninger und Dreyfus nur noch die Wahl, die Ankunft jener Menschen zurückzudatieren, denen der Grenzübertritt danach noch gelingt. Es sind diese lebensrettenden „Amtspflichtverletzungen“ und „Urkundenfälschungen“, für die Paul Grüninger bald darauf entlassen und vor Gericht gestellt werden wird.

Vertreter der Schweiz verhandeln hingegen mit den Deutschen über die von Rothmund geforderte Visumpflicht. Die deutsche Seite schlägt eine Kennzeichnung der Pässe von Juden vor und fordert auch von der Schweiz, das Gleiche zu tun.

Eine generelle Kennzeichnung von jüdischen Schweizer Bürgern kommt für Rothmund nicht in Frage. Was die Flüchtlinge angeht, so ist Ihm ist freilich eine andere Lösung lieber, nicht so anstößig in den Augen der Weltöffentlichkeit, aber genauso effektiv: eigene Kontrollen, wer jüdisch ist und wer nicht. Vier Wochen nach der Konferenz berichtet er am 15. September 1938 dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement:

„Es ist uns bis heute gelungen, durch systematische und vorsichtige Arbeit die Verjudung der Schweiz zu verhindern. […] Haben wir das Visum, so ist Deutschland vollkommen frei, den Emigranten Papiere zu geben, wie es will, und braucht sie auch nicht als solche zu bezeichnen. Wir würden sie herausfinden unter denen, die nicht in der Lage wären, einen Arierausweis, ein Mitgliedbuch der Partei, der deutschen Arbeitsfront […] usw. vorzulegen. […] An der Grenze hätten wir eine saubere Ordnung.“[3]

Die deutsche Seite will freilich eine generelle Visumpflicht für alle Reichsbürger nicht hinnehmen. So einigt man sich schließlich auf den J-Stempel in den Pässen deutscher Juden. Die Stigmatisierung wird amtlich. Im Januar schreibt Rothmund befriedigt an den Schweizer Gesandten in Den Haag, Arthur-Edouard de Pury:

„Wir haben nicht seit zwanzig Jahren mit dem Mittel der Fremdenpolizei gegen die Zunahme der Überfremdung und ganz besonders gegen die Verjudung der Schweiz gekämpft, um uns heute die Emigranten aufzwingen zu lassen.“[4]

Anfang 1939 wächst der Druck auf Grüninger, wie auch auf Regierungsrat Keel, der um seine Wiederwahl fürchten muss. Rothmund verlangt eine Untersuchung der ihm zugetragenen „Unregelmäßigkeiten“ im Kanton St. Gallen. Und der Vaterländische Verband droht damit, den „Skandal“ illegaler Einreisen öffentlich zu machen. Am 3. April 1939 wird Grüninger suspendiert, schließlich unehrenhaft unter Entziehung seiner Pensionsansprüche entlassen. 1940 folgt seine Verurteilung zu einer Geldstrafe.
Grüninger ist mittellos. Die Jüdische Gemeinde traut sich nicht, ihn offen zu unterstützen. Die Flüchtlingshilfe insgesamt ist nun bedroht. Der Textilindustrielle Elias Sternbuch, Schwager von Recha Sternbuch, gibt ihm schließlich eine Stelle als Regenmantelverkäufer in Basel. Doch als Geschäftsmann taugt Grüninger nicht. Nach vergeblichen Versuchen als Handelsvertreter wird er in den 1950er Jahren wieder Primarlehrer in Au im Rheintal, aushilfsweise, bis zu seiner Pensionierung als verarmter und verfemter Privatier. 1971 erhält er eine Anerkennung von Yad Vashem als «Gerechter aus den Völkern», 1972 stirbt er in St. Gallen.
Erst 1993 wird er rehabilitiert und bald darauf auch das Urteil gegen ihn aufgehoben. 1998 wird seine Familie entschädigt. Ruth Roduner, seine Tochter, gründet mit dem Geld die Paul Grüninger Stiftung, die seitdem Engagement für die Menschenrechte unterstützt.

2012 wird die Grenzbrücke über den Alten Rhein zwischen Hohenems und Diepoldsau nach ihm benannt.[5]

Leseempfehlung:
Stefan Keller, Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. Zürich 1993 (1998).


[1] BAR E 4260 (C) 1969/146 Band 6: Konferenzen der kantonalen Polizeidirektoren, Protokoll der Sitzung vom 17. Aug. 1938 in Bern. (zit. nach Jörg Krummenacher, Flüchtiges Glück. Zürich 2005, S. 117f.)

[2] Zitiert nach Stefan Keller, Grüningers Fall. Zürich 1993, S. 50.

[3] Bericht des Chefs der Polizeiabteilung vom 15. September 1938 an das EJPD, zitiert nach: Carl Ludwig, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart, Bern 1966/1957, S. 112. 

[4] Le Chef de la Division de Police du Département de Justice et Police, H. Rothmund, au Ministre de Suisse à La Haye, A. de Pury, 27. Januar 1939, Diplomatische Dokumente der Schweiz 1848-1945, Vol. 13 (1939-1940), Bern 1991, S. 22.

[5] Zu Paul Grüningers Geschichte siehe Stefan Keller, Grüningers Fall. Zürich 1993.

 

Grab von Paul Grüninger auf dem Friedhof in Au (SG)

 


Einweihung der Paul Grüninger Brücke, 6. Mai 2012, Ruth Roduner-Grüninger und Robert Kreutner in der Mitte.
Archiv Jüdisches Museum Hohenems

23 Paul Grüninger

„Können wir unsere Grenzen nicht besser verschließen?“ Paul Grüninger und die Schweizer Flüchtlingspolitik
Bern, 17. August 1938

 Am 17. August 1938 lädt Heinrich Rothmund, Chef der Fremdenpolizei im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement die kantonalen Polizeidirektoren nach Bern ins Zimmer 86 des Parlamentsgebäudes. Die außerordentliche Konferenz soll die Lage an der Grenze beraten und den Umgang mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen, die aus dem Deutschen Reich versuchen in die Schweiz zu gelangen. Einer der Teilnehmer ist der Hauptmann der Kantonspolizei von St. Gallen, Paul Grüninger.

Rothmund eröffnet die Konferenz mit einem Lagebericht, der die Situation dramatisch erscheinen lässt. Weit mehr als 1000 illegale Flüchtlinge befänden sich in der Schweiz. Und das Deutsche Reich würde nun auch an alle Österreicherinnen und Österreicher deutsche Pässe verteilen. Man müsse über eine Ausdehnung der für Österreicher geltenden Visumpflicht für alle Deutsche nachdenken. Der Züricher Polizeidirektor Robert Briner, seines Zeichens auch Präsident der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe, liefert das von Rothmund erwartete Stichwort:

„Können wir unsere Grenzen nicht besser verschließen? Die Entfernung der Flüchtlinge ist schwieriger als ihre Fernhaltung.“

Der St. Galler Regierungsrat Valentin Keel spricht von der „Kulturschande der Judenverfolgung“ in Deutschland, eine Bemerkung, die ins Protokoll nicht aufgenommen wird. Der Thurgauer Polizeichef Ernst Haudenschild weiß darauf folgende Antwort:

„Die grösste Strafe für die deutschen Behörden ist die Zurückschiebung aller Flüchtlinge. Heute beschäftigen uns die Juden, in einigen Monaten wohl andere Flüchtlinge aus Deutschland. Unsere kantonale Regierung hat uns strikte Weisung erteilt, alle Flüchtlinge abzuweisen. Wir haben keine politischen und keine jüdischen Flüchtlinge in unserem Kanton. Man mag in Bern befehlen und beschliessen, was man will, unser Kanton wird keine Flüchtlinge zulassen.“

Es ist Paul Grüninger, der offenen Widerspruch wagt:

„Die Ausführungen des Vorredner überraschen. Die Rückweisung der Flüchtlinge geht schon aus Erwägungen der Menschlichkeit nicht. Wir müssen viele hereinlassen. Wir haben ein Interesse daran, diese Leute möglichst zusammen zu erhalten, damit die Kontrolle erfolgen kann und ebenfalls aus hygienischen Gründen. Wenn wir die Leute abweisen, kommen sie eben ‚schwarz‘ und unkontrollierbar. Vollkommene Abschließung der Grenze ist nicht möglich.“[1]

Unterstützung für Grüninger kommt vor allem vom Vertreter Graubündens, Departementssekretär Dr. Bühler. Auch die sozialdemokratischen Vertreter aus Basel und Schaffhausen, Polizeidirektor Brechbühl und Regierungsrat Bührer, sprechen sich – vorläufig – gegen rücksichtslose Abschiebungen und Zurückweisungen aus. Die übrigen fordern, ganz im Sinne Rothmunds, die sofortige Schließung der Grenzen.

In der folgenden Pressemitteilung ist von den abweichenden Meinungen nicht mehr die Rede. Einmütig habe man die Grenzschließung gegenüber Flüchtlingen beschlossen. Zwei Tage später wird den Polizeidirektoren mitgeteilt,

„dass eine weitere Zureise von illegalen Flüchtlingen nicht geduldet werden könne. […] Da die Ostgrenze namentlich bei Diepoldsau schwer zu schützen ist, wurde die dortige Grenzkontrolle aus den Beständen der freiwilligen Grenzschutzkompagnien verstärkt.“[2]

Paul Grüninger, der sich in der Konferenz offen gegen die Grenzschließung ausgesprochen hat, ist zu diesem Zeitpunkt schon seit Wochen mit den Anordnungen aus Bern im Konflikt.

1891 in St. Gallen geboren, hatte Grüninger zunächst eine Laufbahn als Primarlehrer eingeschlagen. Und als leidenschaftlicher Fußballer hatte er mit seinem Team, dem St. Galler Club FC Brühl, 1915 als Linksaußenstürmer die Schweizer Meisterschaft gewonnen. 1919 wechselt Grüninger in den Polizeidienst, wo er 1925 zum Kommandanten der St. Galler Kantonspolizei aufsteigt. Und Präsident seines Fußballvereins wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

Hochzeitsfoto von Alice und Paul Grüninger, 1921

1938 ist Grüninger mit der Not der Flüchtlinge konfrontiert. Zunächst reagiert er unentschieden, dann gehorcht er immer stärker seinem Mitgefühl. Immer wieder kommen Flüchtlinge, denen es gelungen ist illegal über die Grenze zu gelangen, in sein Büro in St. Gallen und bitten um eine Aufenthaltsgenehmigung, immer öfter wird er selbst an die Grenze gerufen um an Ort und Stelle zu entscheiden. Und meistens entscheidet er zugunsten der Flüchtlinge. Die Israelitische Flüchtlingshilfe unter Sidney Dreyfus richtet in St. Gallen ein eigenes Büro ein. Anfang August reichen die Flüchtlingsquartiere in Privatunterkünften und Pensionen nicht mehr aus. In Diepoldsau richtet Grüninger in einem leerstehenden Stickereilokal ein Flüchtlingslager ein. Die Kosten dafür muss die Israelitische Flüchtlingshilfe tragen, wie auch sonst für die Versorgung der Flüchtlinge. Schließlich beginnt Grüninger auch damit, Wertgegenstände für die Flüchtlinge über die Grenze zu schmuggeln.
Als mit der Grenzschließung am 18. August die Anweisung kommt, niemand mehr aufzunehmen, bleibt Grüninger und Dreyfus nur noch die Wahl, die Ankunft jener Menschen zurückzudatieren, denen der Grenzübertritt danach noch gelingt. Es sind diese lebensrettenden „Amtspflichtverletzungen“ und „Urkundenfälschungen“, für die Paul Grüninger bald darauf entlassen und vor Gericht gestellt werden wird.

Vertreter der Schweiz verhandeln hingegen mit den Deutschen über die von Rothmund geforderte Visumpflicht. Die deutsche Seite schlägt eine Kennzeichnung der Pässe von Juden vor und fordert auch von der Schweiz, das Gleiche zu tun.

Eine generelle Kennzeichnung von jüdischen Schweizer Bürgern kommt für Rothmund nicht in Frage. Was die Flüchtlinge angeht, so ist Ihm ist freilich eine andere Lösung lieber, nicht so anstößig in den Augen der Weltöffentlichkeit, aber genauso effektiv: eigene Kontrollen, wer jüdisch ist und wer nicht. Vier Wochen nach der Konferenz berichtet er am 15. September 1938 dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement:

„Es ist uns bis heute gelungen, durch systematische und vorsichtige Arbeit die Verjudung der Schweiz zu verhindern. […] Haben wir das Visum, so ist Deutschland vollkommen frei, den Emigranten Papiere zu geben, wie es will, und braucht sie auch nicht als solche zu bezeichnen. Wir würden sie herausfinden unter denen, die nicht in der Lage wären, einen Arierausweis, ein Mitgliedbuch der Partei, der deutschen Arbeitsfront […] usw. vorzulegen. […] An der Grenze hätten wir eine saubere Ordnung.“[3]

Die deutsche Seite will freilich eine generelle Visumpflicht für alle Reichsbürger nicht hinnehmen. So einigt man sich schließlich auf den J-Stempel in den Pässen deutscher Juden. Die Stigmatisierung wird amtlich. Im Januar schreibt Rothmund befriedigt an den Schweizer Gesandten in Den Haag, Arthur-Edouard de Pury:

„Wir haben nicht seit zwanzig Jahren mit dem Mittel der Fremdenpolizei gegen die Zunahme der Überfremdung und ganz besonders gegen die Verjudung der Schweiz gekämpft, um uns heute die Emigranten aufzwingen zu lassen.“[4]

Anfang 1939 wächst der Druck auf Grüninger, wie auch auf Regierungsrat Keel, der um seine Wiederwahl fürchten muss. Rothmund verlangt eine Untersuchung der ihm zugetragenen „Unregelmäßigkeiten“ im Kanton St. Gallen. Und der Vaterländische Verband droht damit, den „Skandal“ illegaler Einreisen öffentlich zu machen. Am 3. April 1939 wird Grüninger suspendiert, schließlich unehrenhaft unter Entziehung seiner Pensionsansprüche entlassen. 1940 folgt seine Verurteilung zu einer Geldstrafe.
Grüninger ist mittellos. Die Jüdische Gemeinde traut sich nicht, ihn offen zu unterstützen. Die Flüchtlingshilfe insgesamt ist nun bedroht. Der Textilindustrielle Elias Sternbuch, Schwager von Recha Sternbuch, gibt ihm schließlich eine Stelle als Regenmantelverkäufer in Basel. Doch als Geschäftsmann taugt Grüninger nicht. Nach vergeblichen Versuchen als Handelsvertreter wird er in den 1950er Jahren wieder Primarlehrer in Au im Rheintal, aushilfsweise, bis zu seiner Pensionierung als verarmter und verfemter Privatier. 1971 erhält er eine Anerkennung von Yad Vashem als «Gerechter aus den Völkern», 1972 stirbt er in St. Gallen.
Erst 1993 wird er rehabilitiert und bald darauf auch das Urteil gegen ihn aufgehoben. 1998 wird seine Familie entschädigt. Ruth Roduner, seine Tochter, gründet mit dem Geld die Paul Grüninger Stiftung, die seitdem Engagement für die Menschenrechte unterstützt.

2012 wird die Grenzbrücke über den Alten Rhein zwischen Hohenems und Diepoldsau nach ihm benannt.[5]

Leseempfehlung:
Stefan Keller, Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. Zürich 1993 (1998).


[1] BAR E 4260 (C) 1969/146 Band 6: Konferenzen der kantonalen Polizeidirektoren, Protokoll der Sitzung vom 17. Aug. 1938 in Bern. (zit. nach Jörg Krummenacher, Flüchtiges Glück. Zürich 2005, S. 117f.)

[2] Zitiert nach Stefan Keller, Grüningers Fall. Zürich 1993, S. 50.

[3] Bericht des Chefs der Polizeiabteilung vom 15. September 1938 an das EJPD, zitiert nach: Carl Ludwig, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart, Bern 1966/1957, S. 112. 

[4] Le Chef de la Division de Police du Département de Justice et Police, H. Rothmund, au Ministre de Suisse à La Haye, A. de Pury, 27. Januar 1939, Diplomatische Dokumente der Schweiz 1848-1945, Vol. 13 (1939-1940), Bern 1991, S. 22.

[5] Zu Paul Grüningers Geschichte siehe Stefan Keller, Grüningers Fall. Zürich 1993.

 

Grab von Paul Grüninger auf dem Friedhof in Au (SG)

 


Einweihung der Paul Grüninger Brücke, 6. Mai 2012, Ruth Roduner-Grüninger und Robert Kreutner in der Mitte.
Archiv Jüdisches Museum Hohenems

Kurzbiografien der genannten Personen

Paul Grüninger geboren 27.10.1891 in St. Gallen, gestorben 22.2.1972 in St. Gallen. Grüninger arbeitete zunächst als Lehrer und war auch als Fußballspieler aktiv, bevor er 1919 in den kantonalen Polizeidienst eintrat und Polizeikommandant des Kanton St. Gallen wurde. 1938/39 rettet Paul Grüninger hunderten von jüdischen Flüchtlingen das Leben, indem er ihre Ausweisung verhinderte und Flüchtlingslager einrichtete. Dabei verstieß er immer wieder gegen Weisungen aus Bern und verschiedene Dienstvorschriften und arbeitete mit anderen Fluchthelfern wie Ernest Prodolliet oder Recha Sternbuch zusammen. 1939 wurde er vom Dienst suspendiert und unehrenhaft entlassen. 1940 wurde er wegen Dienstvergehen verurteilt. Nach dem Krieg arbeitete er als Hilfslehrer. Erst zwanzig Jahre nach seinem Tod wurde er rehabilitiert.