22 Familie Kreutner
„Solche Sachen bleiben in Erinnerung“. Misshandelt in Wien und mehrfach an der Grenze zurückgewiesen. Die Flucht der Familie Kreutner
Hohenems – Diepoldsau, November 1938
„Durch den Blutverlust ist mir schwindlig geworden. Ich bin zusammengebrochen, bewusstlos, halb bewusstlos. Meine Frau war im Haus drin und der Bub hat geschrien, weil er doch wahnsinnig Ohrenschmerzen hatte. ... Und ich bin zusammengebrochen und kann mich im Halbdusel noch erinnern, wie einer gesagt hat: „Komm, geben wir ihm noch...“ – ich sage das genau nach meinem Erinnerungsvermögen – „Wir können ihm noch mit dem Stiefel einen Tritt in den Bauch geben!“ Da hat der eine gesagt: „Das musst du nicht mehr tun, der macht keinen Mucks mehr.“ Ich würde sagen, das ist ein Glück gewesen. Sie haben mich in Ruhe gelassen, bewusstlos am Boden und blutend, und sind weg. In der Meinung, mit dem kann man nichts mehr anfangen, den kann man nicht mitnehmen. ... Und das Mitnehmen wäre im Endeffekt das KZ gewesen. Ob ich heute noch leben würde, ich weiß es nicht, aber ich bezweifle es. Dann sind sie weg und meine Frau ist dann raus mit dem Buben – den Buben auf dem Arm, der knapp eineinhalb Jahre alt war.“
1997 erzählt Jakob Kreutner dem Schweizer Fernsehen, wie Nazi-Schläger ihn in der „Kristallnacht“ in Wien misshandelten. Kurz nach dem Überfall entschloss sich die Familie zur Flucht in die Schweiz. Mehrfach wurde sie an der Grenze abgewiesen und versuchten es immer wieder aufs neue.
„Solche Sachen bleiben in Erinnerung. Es hat geschneit, der Rhein hat Hochwasser gehabt und wir mussten über die Steine. Ich weiß nicht, waren das Schmuggelstege? Und da ist der Bub mit dem Führer – er hat den Buben genommen, weil der Bub geschrien hat – da ist er einmal ausgerutscht, und dann war der Zapfen ab. Er hat so geschrien, dass man es bestimmt – das ist jetzt ironisch gesagt – bis nach St. Gallen gehört haben muss. Und dann sagt er: „Ihr müsst da rauf!“ Da gibt es so einen Hügel, fast wie überall bei der Grenze, oder sagen wir: eine Böschung, und er sagt: „Geht ihr, das ist jetzt eure Sache.“ Und ist verschwunden. Ich betone, der Mann, der uns geführt hat, ist ein Österreicher gewesen. Ein Lustenauer... Nein, Hohenems, von Hohenems. Und er ist weg. Und dann sind wir rauf und da waren die Grenzwächter, die Schweizer Grenzwächter mit Pelerinen und das Gewehr im Anschlag. Die haben natürlich ihre Weisung gehabt. Und da haben sie meine Frau gefragt – sie hat es in der Aufregung nicht erwähnt – haben sie gefragt: „Wo wollen Sie hin?“ Da hat meine Frau gesagt: „Wenn Sie mich zurückschicken, dann erschießen Sie uns lieber da.“[1]
Schließlich nimmt ein Grenzwächter die Familie mit. Es ist Alfons Eigenmann, dessen Frau darauf besteht, sich um die durchnässten Menschen zu kümmern. Eigenmann selbst macht den Fall in einem Brief bekannt, der anonym in Schweizer Zeitungen erscheint. Noch lange muss die Familie darum kämpfen, in der Schweiz bleiben zu dürfen. 1948 wird die Fremdenpolizei ihnen mitteilen, sie könnten doch in den neu gegründeten Staat Israel weiter wandern. Doch die Kreutners bleiben – und werden Schweizer.
[1] Interview mit Jakob und Ida Kreutner, in: „Die Fluchthelfer von Diepoldsau“ (Hansjürg Zumstein, Schweizer Fernsehen SRF, 1997).
22 Familie Kreutner
„Solche Sachen bleiben in Erinnerung“. Misshandelt in Wien und mehrfach an der Grenze zurückgewiesen. Die Flucht der Familie Kreutner
Hohenems – Diepoldsau, November 1938
„Durch den Blutverlust ist mir schwindlig geworden. Ich bin zusammengebrochen, bewusstlos, halb bewusstlos. Meine Frau war im Haus drin und der Bub hat geschrien, weil er doch wahnsinnig Ohrenschmerzen hatte. ... Und ich bin zusammengebrochen und kann mich im Halbdusel noch erinnern, wie einer gesagt hat: „Komm, geben wir ihm noch...“ – ich sage das genau nach meinem Erinnerungsvermögen – „Wir können ihm noch mit dem Stiefel einen Tritt in den Bauch geben!“ Da hat der eine gesagt: „Das musst du nicht mehr tun, der macht keinen Mucks mehr.“ Ich würde sagen, das ist ein Glück gewesen. Sie haben mich in Ruhe gelassen, bewusstlos am Boden und blutend, und sind weg. In der Meinung, mit dem kann man nichts mehr anfangen, den kann man nicht mitnehmen. ... Und das Mitnehmen wäre im Endeffekt das KZ gewesen. Ob ich heute noch leben würde, ich weiß es nicht, aber ich bezweifle es. Dann sind sie weg und meine Frau ist dann raus mit dem Buben – den Buben auf dem Arm, der knapp eineinhalb Jahre alt war.“
1997 erzählt Jakob Kreutner dem Schweizer Fernsehen, wie Nazi-Schläger ihn in der „Kristallnacht“ in Wien misshandelten. Kurz nach dem Überfall entschloss sich die Familie zur Flucht in die Schweiz. Mehrfach wurde sie an der Grenze abgewiesen und versuchten es immer wieder aufs neue.
„Solche Sachen bleiben in Erinnerung. Es hat geschneit, der Rhein hat Hochwasser gehabt und wir mussten über die Steine. Ich weiß nicht, waren das Schmuggelstege? Und da ist der Bub mit dem Führer – er hat den Buben genommen, weil der Bub geschrien hat – da ist er einmal ausgerutscht, und dann war der Zapfen ab. Er hat so geschrien, dass man es bestimmt – das ist jetzt ironisch gesagt – bis nach St. Gallen gehört haben muss. Und dann sagt er: „Ihr müsst da rauf!“ Da gibt es so einen Hügel, fast wie überall bei der Grenze, oder sagen wir: eine Böschung, und er sagt: „Geht ihr, das ist jetzt eure Sache.“ Und ist verschwunden. Ich betone, der Mann, der uns geführt hat, ist ein Österreicher gewesen. Ein Lustenauer... Nein, Hohenems, von Hohenems. Und er ist weg. Und dann sind wir rauf und da waren die Grenzwächter, die Schweizer Grenzwächter mit Pelerinen und das Gewehr im Anschlag. Die haben natürlich ihre Weisung gehabt. Und da haben sie meine Frau gefragt – sie hat es in der Aufregung nicht erwähnt – haben sie gefragt: „Wo wollen Sie hin?“ Da hat meine Frau gesagt: „Wenn Sie mich zurückschicken, dann erschießen Sie uns lieber da.“[1]
Schließlich nimmt ein Grenzwächter die Familie mit. Es ist Alfons Eigenmann, dessen Frau darauf besteht, sich um die durchnässten Menschen zu kümmern. Eigenmann selbst macht den Fall in einem Brief bekannt, der anonym in Schweizer Zeitungen erscheint. Noch lange muss die Familie darum kämpfen, in der Schweiz bleiben zu dürfen. 1948 wird die Fremdenpolizei ihnen mitteilen, sie könnten doch in den neu gegründeten Staat Israel weiter wandern. Doch die Kreutners bleiben – und werden Schweizer.
[1] Interview mit Jakob und Ida Kreutner, in: „Die Fluchthelfer von Diepoldsau“ (Hansjürg Zumstein, Schweizer Fernsehen SRF, 1997).