18 Flüchtlingslager Diepoldsau
Hungerstreik und Solidarität im Flüchtlingslager Diepoldsau
Diepoldsau, 1938 bis 1939
„Wer gegenwärtig in der Gegend von Diepoldsau-Widnau zu tun hat, dem fallen unwillkürlich die vielen fremdländischen Gestalten auf, meist Leute im Alter von 20-30 Jahren, die das Strassenbild beleben und auf den ersten Blick als jüdische Emigranten erkannt werden.“
Der Berichterstatter im St. Galler Tagblatt vom 23. August 1938 verbirgt sein antisemitisches Ressentiment gegenüber den Menschen nicht, die im Flüchtlingslager Diepoldsau untergebracht waren.
„Eine regelrechte Kantonnementsordnung ist durch die St. Gallischen Polizeiorgane im Lager eingeführt worden: die Leute haben sich zum Zimmerverlesen zu stellen, Appell einzuhalten, Plankenordnung zu machen usw. Während das für die meisten am Anfang ganz fremde Dinge waren, scheinen sich heute alle gut daran gewöhnt zu haben und erkennen den Wert solcher Ordnung.“
Einer der für diese Ordnung zu sorgen hatte, war Landjäger Ernst Kamm. Noch im Juli oder auch erst Anfang August hatte er von Hauptmann Grüninger den Auftrag erhalten, in Diepoldsau in einem leerstehenden Stickereilokal ein Sammellager einzurichten. Der geräumige Saal bot 300 Menschen Platz, unter spartanischen Bedingungen. Für Familien wurde zusätzlich ein anderes Gebäude in der Nähe angemietet und dort auch ein Krankenzimmer eingerichtet.
Ernst Kamm schildert seine Erlebnisse im Jahr 2000 in einem Gespräch mit David Bernet. Ob er sich als 92-jähriger noch korrekt an Zahlen und Daten erinnern konnte, bleibt offen.
„Mitte Juli 1938 holte mich Grüninger nach einem Nachtdienst aus dem Bett und sagte: ‚Sie, Kamm, Sie müssen nach Diepoldsau. Wir hatten in dieser Nacht 1200 Überläufer, jüdische Flüchtlinge. Sie müssen nach Diepoldsau. Sie müssen dieses Lager übernehmen. Ich gebe Ihnen vier Mann als Unterstützung mit.‘ Ich musste sofort zusammenpacken und er brachte mich persönlich nach Diepoldsau. Er sagte: ‚Da ist eine leerstehende Fabrik der Familie Frey, eine alte Stickerei, die aufgrund der schlechten Zeiten geschlossen werden musste.‘ Keine Aufträge mehr, der Krieg stand vor der Türe. Unser Lager in Diepoldsau war nur 500 Meter von der Grenze entfernt. Da sagte er: ‚Sie müssen das Lager aufbauen, Sie sind ja Techniker.‘“[1]
Die Kosten für die Anmietung und Einrichtung des Lagers, ja auch für die Bewachung durch die Kantonspolizei muss die Jüdische Flüchtlingshilfe übernehmen. Und diese steht zunehmend vor dem Problem, Spenden zu sammeln für die Linderung einer Not, über die man kaum öffentlich zu reden wagt. Aus Angst vor fremdenfeindlichen Reaktionen der Schweizer Öffentlichkeit. Im Aufenthaltsraum des Lagers aber prangt eine große Wandmalerei, um das Motto „Dank dem Schweizervolk!“
Kamm, der die Befehlsgewalt über das Lager erhält, gilt unter den Flüchtlingen als durchaus streng und autoritär. Er selbst erinnert sich an seine Gewissenskonflikte:
„Ja, ich war immer in einer sehr schwierigen Lage. Weil ich für das Helfen war und es nicht hätte sein dürfen. Helfen gegen den Willen des Gesetzes – das ist ein schwerer Standpunkt. Auf alle Fälle, wo der Mann und der Sohn schon da sind und die Frau kommt erst, das endgültig zu lösen für die Aufnahme. Das kann man sich eigentlich nicht vorstellen, so einen Entschluss. Eine Familie zu trennen, die nichts Schlechtes getan hat. Die haben ja nichts Schlechtes gemacht. Sie wurden ja verfolgt. Sie sind ja vor dem Tod, vor dem Leben, das man ihnen nehmen wollte, geflüchtet.“
Und er erinnert sich an die Vielfalt im Lager:
„Unter den Emigranten, die kamen, gab es Leute aus allen Schichten. Von Armen bis zu Leuten mit guten Berufen: Juristen, Zahnärzte, Mediziner oder Filmschauspieler. Dann kam wieder ein Sattler, ein Automechaniker, bis hinunter zum Hilfsarbeiter, wie bei uns. Das Benehmen dieser Leute war sehr unterschiedlich. Es gab sehr hilfsbereite Leute. Es gab viele, die nur machten was sie mussten. Höchstens ihr Lager in Ordnung zu bringen. Manche warteten nur auf die Ausreise.“
Einer der vielen die hier Schutz suchten war David Selig Scheer. Aus Polen stammend, in einem Wiener Waisenhaus aufgewachsen, hatte er sich als Bauarbeiter über Wasser gehalten. Den anderen Lagerinsassen ist er als elende Gestalt in Erinnerung. Auch die Flüchtlingshilfe mag sich nicht um ihn kümmern. Offenbar wird er mehrfach abgeschoben und dennoch gelingt es ihm im Dezember 1938 Aufnahme im Lager zu finden.
Ein Mitinsasse, Kurt Bettelheim erinnert sich daran:
„Fast an der Grenze gab es ein Restaurant ‚Alpenblick‘, mit dessen Besitzer wir Lagerinsassen besten Kontakt hatten. Dort ist Scheer in der Weihnachtsnacht angelaufen, und der Wirt hat die Kultusgemeinde St. Gallen angerufen und den Leuten dort gesagt: ‚Wenn Ihr nicht dafür sorgt, dass dieser Mann in der Schweiz bleiben kann, dann werde ich dafür sorgen, dass auch diejenigen nicht mehr kommen können, auf welche ihr grossen Wert legt!“[2]
Scheer kann nun tatsächlich bleiben. Und im Sommer 1939 verhindert die Solidarität der anderen Internierten noch einmal seine Abschiebung. Sie treten in Hungerstreik. Das Verhältnis der Lagerinsassen zur Jüdischen Gemeinde bleibt konfliktträchtig. Manche erinnern sich an den darauffolgenden Auftritt des St. Galler Gemeindevorsitzenden und Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes Saly Mayer in Diepoldsau:
„Meine Herren, ich kann Ihnen mitteilen, dass in Dachau noch einige Plätze frei sind.“
Es ist der gleiche Saly Mayer, der hinter den Kulissen Geld für die Flüchtlinge sammelt und an geheimen Rettungsaktionen beteiligt ist.
Arbeiten und selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen dürfen die Internierten nicht. Manche finden dennoch illegal Arbeit bei Menschen in Diepoldsau, von denen viele den Flüchtlingen durchaus zugetan sind.
Im September 1939 wird das Lager geschlossen. Der Krieg hat begonnen. Die meisten der Flüchtlinge werden nun in Arbeitslagern interniert.
Leseempfehlung:
Stefan Keller, Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. Zürich 1993 (1998); Jörg Krummenacher, Flüchtiges Glück. Die Flüchtlinge im Grenzkanton St. Gallen zur Zeit des Nationalsozialismus. Zürich 2005.
[1] Interview von David Bernet mit Ernst Kamm in Landquart, März 2000, für das Projekt Archimob (Archives de la Mobilisation en Suisse 1939-1945).
[2] Zitiert nach: Stefan Keller, Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. Zürich 1998, S. 93f.
18 Flüchtlingslager Diepoldsau
Hungerstreik und Solidarität im Flüchtlingslager Diepoldsau
Diepoldsau, 1938 bis 1939
„Wer gegenwärtig in der Gegend von Diepoldsau-Widnau zu tun hat, dem fallen unwillkürlich die vielen fremdländischen Gestalten auf, meist Leute im Alter von 20-30 Jahren, die das Strassenbild beleben und auf den ersten Blick als jüdische Emigranten erkannt werden.“
Der Berichterstatter im St. Galler Tagblatt vom 23. August 1938 verbirgt sein antisemitisches Ressentiment gegenüber den Menschen nicht, die im Flüchtlingslager Diepoldsau untergebracht waren.
„Eine regelrechte Kantonnementsordnung ist durch die St. Gallischen Polizeiorgane im Lager eingeführt worden: die Leute haben sich zum Zimmerverlesen zu stellen, Appell einzuhalten, Plankenordnung zu machen usw. Während das für die meisten am Anfang ganz fremde Dinge waren, scheinen sich heute alle gut daran gewöhnt zu haben und erkennen den Wert solcher Ordnung.“
Einer der für diese Ordnung zu sorgen hatte, war Landjäger Ernst Kamm. Noch im Juli oder auch erst Anfang August hatte er von Hauptmann Grüninger den Auftrag erhalten, in Diepoldsau in einem leerstehenden Stickereilokal ein Sammellager einzurichten. Der geräumige Saal bot 300 Menschen Platz, unter spartanischen Bedingungen. Für Familien wurde zusätzlich ein anderes Gebäude in der Nähe angemietet und dort auch ein Krankenzimmer eingerichtet.
Ernst Kamm schildert seine Erlebnisse im Jahr 2000 in einem Gespräch mit David Bernet. Ob er sich als 92-jähriger noch korrekt an Zahlen und Daten erinnern konnte, bleibt offen.
„Mitte Juli 1938 holte mich Grüninger nach einem Nachtdienst aus dem Bett und sagte: ‚Sie, Kamm, Sie müssen nach Diepoldsau. Wir hatten in dieser Nacht 1200 Überläufer, jüdische Flüchtlinge. Sie müssen nach Diepoldsau. Sie müssen dieses Lager übernehmen. Ich gebe Ihnen vier Mann als Unterstützung mit.‘ Ich musste sofort zusammenpacken und er brachte mich persönlich nach Diepoldsau. Er sagte: ‚Da ist eine leerstehende Fabrik der Familie Frey, eine alte Stickerei, die aufgrund der schlechten Zeiten geschlossen werden musste.‘ Keine Aufträge mehr, der Krieg stand vor der Türe. Unser Lager in Diepoldsau war nur 500 Meter von der Grenze entfernt. Da sagte er: ‚Sie müssen das Lager aufbauen, Sie sind ja Techniker.‘“[1]
Die Kosten für die Anmietung und Einrichtung des Lagers, ja auch für die Bewachung durch die Kantonspolizei muss die Jüdische Flüchtlingshilfe übernehmen. Und diese steht zunehmend vor dem Problem, Spenden zu sammeln für die Linderung einer Not, über die man kaum öffentlich zu reden wagt. Aus Angst vor fremdenfeindlichen Reaktionen der Schweizer Öffentlichkeit. Im Aufenthaltsraum des Lagers aber prangt eine große Wandmalerei, um das Motto „Dank dem Schweizervolk!“
Kamm, der die Befehlsgewalt über das Lager erhält, gilt unter den Flüchtlingen als durchaus streng und autoritär. Er selbst erinnert sich an seine Gewissenskonflikte:
„Ja, ich war immer in einer sehr schwierigen Lage. Weil ich für das Helfen war und es nicht hätte sein dürfen. Helfen gegen den Willen des Gesetzes – das ist ein schwerer Standpunkt. Auf alle Fälle, wo der Mann und der Sohn schon da sind und die Frau kommt erst, das endgültig zu lösen für die Aufnahme. Das kann man sich eigentlich nicht vorstellen, so einen Entschluss. Eine Familie zu trennen, die nichts Schlechtes getan hat. Die haben ja nichts Schlechtes gemacht. Sie wurden ja verfolgt. Sie sind ja vor dem Tod, vor dem Leben, das man ihnen nehmen wollte, geflüchtet.“
Und er erinnert sich an die Vielfalt im Lager:
„Unter den Emigranten, die kamen, gab es Leute aus allen Schichten. Von Armen bis zu Leuten mit guten Berufen: Juristen, Zahnärzte, Mediziner oder Filmschauspieler. Dann kam wieder ein Sattler, ein Automechaniker, bis hinunter zum Hilfsarbeiter, wie bei uns. Das Benehmen dieser Leute war sehr unterschiedlich. Es gab sehr hilfsbereite Leute. Es gab viele, die nur machten was sie mussten. Höchstens ihr Lager in Ordnung zu bringen. Manche warteten nur auf die Ausreise.“
Einer der vielen die hier Schutz suchten war David Selig Scheer. Aus Polen stammend, in einem Wiener Waisenhaus aufgewachsen, hatte er sich als Bauarbeiter über Wasser gehalten. Den anderen Lagerinsassen ist er als elende Gestalt in Erinnerung. Auch die Flüchtlingshilfe mag sich nicht um ihn kümmern. Offenbar wird er mehrfach abgeschoben und dennoch gelingt es ihm im Dezember 1938 Aufnahme im Lager zu finden.
Ein Mitinsasse, Kurt Bettelheim erinnert sich daran:
„Fast an der Grenze gab es ein Restaurant ‚Alpenblick‘, mit dessen Besitzer wir Lagerinsassen besten Kontakt hatten. Dort ist Scheer in der Weihnachtsnacht angelaufen, und der Wirt hat die Kultusgemeinde St. Gallen angerufen und den Leuten dort gesagt: ‚Wenn Ihr nicht dafür sorgt, dass dieser Mann in der Schweiz bleiben kann, dann werde ich dafür sorgen, dass auch diejenigen nicht mehr kommen können, auf welche ihr grossen Wert legt!“[2]
Scheer kann nun tatsächlich bleiben. Und im Sommer 1939 verhindert die Solidarität der anderen Internierten noch einmal seine Abschiebung. Sie treten in Hungerstreik. Das Verhältnis der Lagerinsassen zur Jüdischen Gemeinde bleibt konfliktträchtig. Manche erinnern sich an den darauffolgenden Auftritt des St. Galler Gemeindevorsitzenden und Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes Saly Mayer in Diepoldsau:
„Meine Herren, ich kann Ihnen mitteilen, dass in Dachau noch einige Plätze frei sind.“
Es ist der gleiche Saly Mayer, der hinter den Kulissen Geld für die Flüchtlinge sammelt und an geheimen Rettungsaktionen beteiligt ist.
Arbeiten und selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen dürfen die Internierten nicht. Manche finden dennoch illegal Arbeit bei Menschen in Diepoldsau, von denen viele den Flüchtlingen durchaus zugetan sind.
Im September 1939 wird das Lager geschlossen. Der Krieg hat begonnen. Die meisten der Flüchtlinge werden nun in Arbeitslagern interniert.
Leseempfehlung:
Stefan Keller, Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. Zürich 1993 (1998); Jörg Krummenacher, Flüchtiges Glück. Die Flüchtlinge im Grenzkanton St. Gallen zur Zeit des Nationalsozialismus. Zürich 2005.
[1] Interview von David Bernet mit Ernst Kamm in Landquart, März 2000, für das Projekt Archimob (Archives de la Mobilisation en Suisse 1939-1945).
[2] Zitiert nach: Stefan Keller, Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. Zürich 1998, S. 93f.