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    Alter Rhein bei Altach, 2021
    Dietmar Walser, Hohenems

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    Alter Rhein zwischen Hohenems und Altach mit Blick auf den Kummenberg und den Hohen Kasten, Mai 1943
    Jüdisches Museum Hohenems

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    Ausschnitt aus dem Abschiedsbrief von Gisèle Billig an ihren Sohn Erich Billig, 1942
    Stefan Keller: Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. Zürich 1993, S. 183.

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    Erich Billig im Film "Grüningers Fall", 1997
    Richard Dindo, Grüningers Fall



30    Erich Billig> November 1938


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30 Erich Billig

„Wo es dann hingeht weiß ich nicht“. Erich Billig schafft es in die Schweiz. Und erhält einen letzten Brief von seiner Mutter
Altach – Diepoldsau – St. Gallen, November 1938

„Mein teuerster Erich,

Vor Abgang send ich Dir mein teuerster die herzl(ichsten) Küsse + wünsche Dir Alles Alles Gute + der l(iebe) Gott möge Dich weiterhin beschützen. Viele innige Küsse von Deiner stets an Dich denken + Dich im Geiste umarmenden

Mama

Camp Rivesalt, Pyrenäen”[1]

1942 empfängt Erich Billig in St. Gallen einen Brief seiner Mutter. 1938 ist er aus Wien geflohen. Nach dem Pogrom der „Kristallnacht“ hat Gisèle Billig ihren vierzehnjährigen Sohn mit zwei Bekannten nach Westen geschickt, um illegal in die Schweiz zu entkommen. Sie selbst wartete in Wien auf ihren nach Dachau deportierten Mann.

Als im Mai 2012 die Grenzbrücke zwischen Hohenems und Diepoldsau in Paul-Grüninger-Brücke benannt wird, erinnert sich Erich Billig an seine Flucht:

„Zu dritt fuhren wir bis Altach nahe der Grenze, wo wir im dortigen Gasthof abstiegen. Recht bald hatten wir Besuch eines noch in österreichische Uniform gekleideten Gendarmen. Er versprach uns über die Grenze zu bringen, natürlich gegen Bezahlung und übte auch Druck aus. Als er dann abends in Zivil kam führte er uns zum fast ausgetrockneten Bett des Alten Rheins und liess uns dort stehen mit der Bemerkung, am anderen Ufer sei die Schweiz. Wir liefen dann direkt in die Hände eines vom Hund begleiteten Schweizer Zollbeamten. Die Nacht verbrachten wir eingesperrt im Diepoldsauer Zollhaus und in der Frühe schickte man uns über die heute zu benennende Brücke zurück wo sich die Gestapo unserer annahm.“ 

Den dreien gelingt es einen zweiten Fluchtversuch zu unternehmen. Diesmal mit der Hilfe zweier Schlepper aus der Schweiz, die sie beim Zoll Schmitter über die Grenze bringen. Bei einer Familie können sie schlafen und ihre Sachen trocknen, bevor es versteckt unter einer Plane eines Lastwagens über die ebenfalls bewachte Rheinbrücke nach Widnau hinübergeht. 

Ende November steht Erich Billig vor Paul Grüninger in St. Gallen, der die erlösenden Worte spricht. „Si chönd blibe“ Drei Wochen wird Billig im Lager Diepoldsau interniert, dann nimmt eine Familie in St. Gallen ihn auf. Eine Lehre darf er zunächst nicht machen, die Fremdenpolizei verbietet den Flüchtlingen jede Erwerbsarbeit. Erst als sich ein jüdischer Unternehmer für Erich einsetzt, kann er in Rorschach den Beruf eines Maschinenmechanikers lernen. 

1942 trifft bei der Familie Bannwart in St. Gallen der Brief seiner Mutter ein. 

„Wo Papa ist weiss ich nicht. Auch an Fam(ilie) Bannwart viele Grüsse. Sei nochmals umarmt von Deiner Mama.

Vorläufig kommen wir nach Rifsalt ins Camp. Wo es dann hingeht, weiss ich nicht.“ 

Gisèle Billig hat diesen Brief nicht per Post schicken können. Aus Wien ist sie nach Italien geflohen. Von dort weiter nach Südfrankreich. In die rettende Schweiz zu ihrem Sohn darf sie nicht einreisen. Schließlich wird sie in Rivesaltes interniert. Den Brief wirft sie aus dem Fenster des Deportationszuges. Jemand findet ihn und schickt ihn tatsächlich nach St. Gallen.

Von Rivesaltes wird Gisèle Billig nach Paris ins Durchgangslager Drancy verschleppt. Am 7. September 1942 wird sie nach Auschwitz deportiert.  

Erich Billig hat nichts mehr von ihr gehört. Nach dem Krieg heiratet er Hildegard Bannwart, die Tochter seiner Pflegefamilie. Hildegard verliert damit für Jahre ihre Schweizer Staatsbürgerschaft. Die Schweiz macht es den beiden nicht leicht. Es dauert lange, bis sie die Schweizer Staatsbürgerschaft erlangen können. Billig macht Karriere in verschiedenen Maschinenfabriken und die beiden ziehen in die Westschweiz. 


[1] Stefan Keller: Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. Zürich 1993, S. 183.




Brief von Gisèle Billig an Erich Billig, 1942
Archiv Stefan Keller, Zürich

30 Erich Billig

„Wo es dann hingeht weiß ich nicht“. Erich Billig schafft es in die Schweiz. Und erhält einen letzten Brief von seiner Mutter
Altach – Diepoldsau – St. Gallen, November 1938

„Mein teuerster Erich,

Vor Abgang send ich Dir mein teuerster die herzl(ichsten) Küsse + wünsche Dir Alles Alles Gute + der l(iebe) Gott möge Dich weiterhin beschützen. Viele innige Küsse von Deiner stets an Dich denken + Dich im Geiste umarmenden

Mama

Camp Rivesalt, Pyrenäen”[1]

1942 empfängt Erich Billig in St. Gallen einen Brief seiner Mutter. 1938 ist er aus Wien geflohen. Nach dem Pogrom der „Kristallnacht“ hat Gisèle Billig ihren vierzehnjährigen Sohn mit zwei Bekannten nach Westen geschickt, um illegal in die Schweiz zu entkommen. Sie selbst wartete in Wien auf ihren nach Dachau deportierten Mann.

Als im Mai 2012 die Grenzbrücke zwischen Hohenems und Diepoldsau in Paul-Grüninger-Brücke benannt wird, erinnert sich Erich Billig an seine Flucht:

„Zu dritt fuhren wir bis Altach nahe der Grenze, wo wir im dortigen Gasthof abstiegen. Recht bald hatten wir Besuch eines noch in österreichische Uniform gekleideten Gendarmen. Er versprach uns über die Grenze zu bringen, natürlich gegen Bezahlung und übte auch Druck aus. Als er dann abends in Zivil kam führte er uns zum fast ausgetrockneten Bett des Alten Rheins und liess uns dort stehen mit der Bemerkung, am anderen Ufer sei die Schweiz. Wir liefen dann direkt in die Hände eines vom Hund begleiteten Schweizer Zollbeamten. Die Nacht verbrachten wir eingesperrt im Diepoldsauer Zollhaus und in der Frühe schickte man uns über die heute zu benennende Brücke zurück wo sich die Gestapo unserer annahm.“ 

Den dreien gelingt es einen zweiten Fluchtversuch zu unternehmen. Diesmal mit der Hilfe zweier Schlepper aus der Schweiz, die sie beim Zoll Schmitter über die Grenze bringen. Bei einer Familie können sie schlafen und ihre Sachen trocknen, bevor es versteckt unter einer Plane eines Lastwagens über die ebenfalls bewachte Rheinbrücke nach Widnau hinübergeht. 

Ende November steht Erich Billig vor Paul Grüninger in St. Gallen, der die erlösenden Worte spricht. „Si chönd blibe“ Drei Wochen wird Billig im Lager Diepoldsau interniert, dann nimmt eine Familie in St. Gallen ihn auf. Eine Lehre darf er zunächst nicht machen, die Fremdenpolizei verbietet den Flüchtlingen jede Erwerbsarbeit. Erst als sich ein jüdischer Unternehmer für Erich einsetzt, kann er in Rorschach den Beruf eines Maschinenmechanikers lernen. 

1942 trifft bei der Familie Bannwart in St. Gallen der Brief seiner Mutter ein. 

„Wo Papa ist weiss ich nicht. Auch an Fam(ilie) Bannwart viele Grüsse. Sei nochmals umarmt von Deiner Mama.

Vorläufig kommen wir nach Rifsalt ins Camp. Wo es dann hingeht, weiss ich nicht.“ 

Gisèle Billig hat diesen Brief nicht per Post schicken können. Aus Wien ist sie nach Italien geflohen. Von dort weiter nach Südfrankreich. In die rettende Schweiz zu ihrem Sohn darf sie nicht einreisen. Schließlich wird sie in Rivesaltes interniert. Den Brief wirft sie aus dem Fenster des Deportationszuges. Jemand findet ihn und schickt ihn tatsächlich nach St. Gallen.

Von Rivesaltes wird Gisèle Billig nach Paris ins Durchgangslager Drancy verschleppt. Am 7. September 1942 wird sie nach Auschwitz deportiert.  

Erich Billig hat nichts mehr von ihr gehört. Nach dem Krieg heiratet er Hildegard Bannwart, die Tochter seiner Pflegefamilie. Hildegard verliert damit für Jahre ihre Schweizer Staatsbürgerschaft. Die Schweiz macht es den beiden nicht leicht. Es dauert lange, bis sie die Schweizer Staatsbürgerschaft erlangen können. Billig macht Karriere in verschiedenen Maschinenfabriken und die beiden ziehen in die Westschweiz. 


[1] Stefan Keller: Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. Zürich 1993, S. 183.




Brief von Gisèle Billig an Erich Billig, 1942
Archiv Stefan Keller, Zürich

Kurzbiografien der genannten Personen

Erich Billig geboren 1924 in Wien, gestorben 20.6.2020. Ende November 1938 gelang es ihm zusammen mit zwei anderen Flüchtlingen, nach einem zunächst erfolglosen Versuch, von Altach aus in die Schweiz zu fliehen, nach St. Gallen zu kommen. Seine Mutter, die über Italien nach Südfrankreich geflohen war, wurde deportiert und in Auschwitz ermordet. Billig wurde von einer christlichen Familie aufgenommen, deren Tochter er später heiratete. Und die aufgrund dieser Heirat zunächst ihre Schweizer Staatsbürgerschaft verlor. Er erlernte den Beruf des Maschinenmechanikers und zog mit seiner Frau in die Westschweiz.