0 Ruth Guggenheimer
Abschied in Lindau. Ruth Guggenheimer und das Ende des deutsch-jüdischen Traums
Lindau, November 1933
Mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Deutschland wird aus Nationalismus der Traum von Weltherrschaft und aus dem verbreiteten Antisemitismus, ob traditionell antijudaistisch oder rassistisch, eine Staatsideologie der Welterlösung. Tausende von politischen Gegnern der Nazis, bekannte Schriftsteller und Intellektuelle, genauso wie Jüdinnen und Juden, fliehen schon 1933 in die Nachbarländer des Deutschen Reiches, nach Österreich, Frankreich oder in die Niederlande, sogar ins faschistische Italien und nicht zuletzt in die Schweiz. Allein in Basel treffen 1933 7500 Emigranten ein. Auch Lindau wird zu einem Fluchtort, von dem aus Menschen über den Bodensee in die Schweiz flüchten.
Im Herbst 1933 verlässt auch Ruth Guggenheimer ihre Heimatstadt Memmingen. Ihre Eltern haben dort im Allgäu eine weithin angesehene Pferdehandlung betrieben. Sie selbst war nach dem Besuch der Handelsschule in München in Memmingen als Sekretärin tätig. Doch nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten hat sie ihre Arbeit verloren. Noch glauben die meisten Jüdinnen und Juden in Deutschland daran, dass diese Zeit vorbei gehen wird. Doch im Sommer hat Ruth Guggenheimer sich entschlossen, auszuwandern. Sie ist 23 Jahre jung und möchte ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Viele Jahre später, in Rio de Janeiro in Brasilien, schreibt sie ihre Erinnerungen nieder wie einen Roman. Sie hält sich nicht mit historischen Details auf und sie ändert ihren Namen. Sie will eine Geschichte erzählen, die nicht nur sie selbst betrifft.
Auch von den Schwierigkeiten, die nötigen Papiere für ihre Emigration zusammen zu bekommen, erzählt sie nichts. Aber sie schildert ihren Abschied und ihren Weg in die Freiheit, über Lindau und den Bodensee.
An einem grauen Novembertag steht sie mit ihren Eltern am Bahnhof von Memmingen.
„Der Abschied von allen Freunden liegt hinter ihr, sie hat den Tag der Abreise verschwiegen. Die Koffer sind aufgegeben, nur Resi kam mit auf den Bahnsteig und trägt ihr kleines Gepäck. Sie kann die Tränen nicht zurückhalten. „Resi, in ein paar Jahren komm ich dich besuchen, dann machst du mir Schokoladenauflauf“, muntert Renate sie auf.
Endlich ist es soweit, der Stationsvorsteher mit der roten Mütze gibt das Signal zur Abfahrt. Renate hat sich in die Ecke des Abteils gedrückt. Die Eltern begleiten sie bis Lindau, von dort geht ihr Weg allein weiter über den Bodensee.
„Willst du nicht wenigstens hinaussehen, noch einen Blick auf deine Heimatstadt werfen“, fragt Oskar Gundelfinger seine Tochter. „Nein, ich brauche nicht hinauszusehen, ich nehme die Heimat in meinem Herzen mit“, entgegnet sie schroffer als gewollt.
Die Fahrt nach Lindau verläuft in gedrückter Stimmung. Renate muss immer wieder die geliebten Gesichter der Eltern ansehen. Das letzte halbe Jahr ist nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. In Lindau verbringen sie noch einen von Trauer überschatteten Abend, am nächsten Morgen kommt der Abschied. … Weiße Wolkenfetzen ziehen über den Hafen und umhüllen Leuchtturm und Löwen. Die Möwen stoßen mit schrillen Schreien aufs Wasser herab und holen sich ihre Nahrung. Das Schweizer Schiff schaukelt unruhig auf den Wellen. Endlich hat Renate die Passkontrolle mit Leibesvisitation hinter sich. Sie wollen mir das Weggehen leichter machen, denkt sie, als sie an der Reling des kleinen Schiffes auf Schweizer Boden steht. Vom Kai blicken die Eltern zu ihr hinauf, zwei einsame Menschen, vom Leid gezeichnet. Langsam manövriert das Schiff sich durch die schmale Hafenausfahrt. Renate kann nichts sehen. Heiß brennen die Tränen in ihren Augen und laufen ihr unaufhaltsam übers Gesicht. Sie vermischen sich mit den Nebelfetzen, die das Schiff, den Leuchtturm und ihre Heimat einhüllen.“[1]
Ruth Guggenheimer geht über die Schweiz und Frankreich nach Brasilien. Unterwegs in Paris heiratet sie Ernst Weikersheimer. In Rio de Janeiro beginnt sie mit ihrer neuen Familie ihr zweites Leben und es gelingt ihr tatsächlich, auch ihre Eltern nach Brasilien zu holen.[2]
Leseempfehlungen:
Gernot Römer, Schwäbische Juden. Leben und Leistungen aus zwei Jahrhunderten. Augsburg 1990, S. 197f.
[1] Auszug aus Ruth Weikersheimer „Eine Jugend in Memmingen. Zwischen gestern und morgen…“, in: Gernot Römer, Schwäbische Juden. Leben und Leistungen aus zwei Jahrhunderten. Augsburg 1990, S. 197f.
[2] Zu Ruth Guggenheimers Familie: https://www.hohenemsgenealogie.at/getperson.php?personID=I59755&tree=Hohenems
0 Ruth Guggenheimer
Abschied in Lindau. Ruth Guggenheimer und das Ende des deutsch-jüdischen Traums
Lindau, November 1933
Mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Deutschland wird aus Nationalismus der Traum von Weltherrschaft und aus dem verbreiteten Antisemitismus, ob traditionell antijudaistisch oder rassistisch, eine Staatsideologie der Welterlösung. Tausende von politischen Gegnern der Nazis, bekannte Schriftsteller und Intellektuelle, genauso wie Jüdinnen und Juden, fliehen schon 1933 in die Nachbarländer des Deutschen Reiches, nach Österreich, Frankreich oder in die Niederlande, sogar ins faschistische Italien und nicht zuletzt in die Schweiz. Allein in Basel treffen 1933 7500 Emigranten ein. Auch Lindau wird zu einem Fluchtort, von dem aus Menschen über den Bodensee in die Schweiz flüchten.
Im Herbst 1933 verlässt auch Ruth Guggenheimer ihre Heimatstadt Memmingen. Ihre Eltern haben dort im Allgäu eine weithin angesehene Pferdehandlung betrieben. Sie selbst war nach dem Besuch der Handelsschule in München in Memmingen als Sekretärin tätig. Doch nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten hat sie ihre Arbeit verloren. Noch glauben die meisten Jüdinnen und Juden in Deutschland daran, dass diese Zeit vorbei gehen wird. Doch im Sommer hat Ruth Guggenheimer sich entschlossen, auszuwandern. Sie ist 23 Jahre jung und möchte ihr Leben selbst in die Hand nehmen.
Viele Jahre später, in Rio de Janeiro in Brasilien, schreibt sie ihre Erinnerungen nieder wie einen Roman. Sie hält sich nicht mit historischen Details auf und sie ändert ihren Namen. Sie will eine Geschichte erzählen, die nicht nur sie selbst betrifft.
Auch von den Schwierigkeiten, die nötigen Papiere für ihre Emigration zusammen zu bekommen, erzählt sie nichts. Aber sie schildert ihren Abschied und ihren Weg in die Freiheit, über Lindau und den Bodensee.
An einem grauen Novembertag steht sie mit ihren Eltern am Bahnhof von Memmingen.
„Der Abschied von allen Freunden liegt hinter ihr, sie hat den Tag der Abreise verschwiegen. Die Koffer sind aufgegeben, nur Resi kam mit auf den Bahnsteig und trägt ihr kleines Gepäck. Sie kann die Tränen nicht zurückhalten. „Resi, in ein paar Jahren komm ich dich besuchen, dann machst du mir Schokoladenauflauf“, muntert Renate sie auf.
Endlich ist es soweit, der Stationsvorsteher mit der roten Mütze gibt das Signal zur Abfahrt. Renate hat sich in die Ecke des Abteils gedrückt. Die Eltern begleiten sie bis Lindau, von dort geht ihr Weg allein weiter über den Bodensee.
„Willst du nicht wenigstens hinaussehen, noch einen Blick auf deine Heimatstadt werfen“, fragt Oskar Gundelfinger seine Tochter. „Nein, ich brauche nicht hinauszusehen, ich nehme die Heimat in meinem Herzen mit“, entgegnet sie schroffer als gewollt.
Die Fahrt nach Lindau verläuft in gedrückter Stimmung. Renate muss immer wieder die geliebten Gesichter der Eltern ansehen. Das letzte halbe Jahr ist nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. In Lindau verbringen sie noch einen von Trauer überschatteten Abend, am nächsten Morgen kommt der Abschied. … Weiße Wolkenfetzen ziehen über den Hafen und umhüllen Leuchtturm und Löwen. Die Möwen stoßen mit schrillen Schreien aufs Wasser herab und holen sich ihre Nahrung. Das Schweizer Schiff schaukelt unruhig auf den Wellen. Endlich hat Renate die Passkontrolle mit Leibesvisitation hinter sich. Sie wollen mir das Weggehen leichter machen, denkt sie, als sie an der Reling des kleinen Schiffes auf Schweizer Boden steht. Vom Kai blicken die Eltern zu ihr hinauf, zwei einsame Menschen, vom Leid gezeichnet. Langsam manövriert das Schiff sich durch die schmale Hafenausfahrt. Renate kann nichts sehen. Heiß brennen die Tränen in ihren Augen und laufen ihr unaufhaltsam übers Gesicht. Sie vermischen sich mit den Nebelfetzen, die das Schiff, den Leuchtturm und ihre Heimat einhüllen.“[1]
Ruth Guggenheimer geht über die Schweiz und Frankreich nach Brasilien. Unterwegs in Paris heiratet sie Ernst Weikersheimer. In Rio de Janeiro beginnt sie mit ihrer neuen Familie ihr zweites Leben und es gelingt ihr tatsächlich, auch ihre Eltern nach Brasilien zu holen.[2]
Leseempfehlungen:
Gernot Römer, Schwäbische Juden. Leben und Leistungen aus zwei Jahrhunderten. Augsburg 1990, S. 197f.
[1] Auszug aus Ruth Weikersheimer „Eine Jugend in Memmingen. Zwischen gestern und morgen…“, in: Gernot Römer, Schwäbische Juden. Leben und Leistungen aus zwei Jahrhunderten. Augsburg 1990, S. 197f.
[2] Zu Ruth Guggenheimers Familie: https://www.hohenemsgenealogie.at/getperson.php?personID=I59755&tree=Hohenems